Offener Brief an Personaler und Bewerber

Liebe Personaler, Recruiter und Bewerber,

wir müssen reden. Wir laufen gerade in eine ganz falsche Richtung…

Seit Jahren beobachte ich nun das zunehmende Bashing von Anschreiben und Feiern des Lebenslaufs. Bewerbungen sollen bitteschön immer einfacher werden und Kandidaten möglichst keine Mühen mehr machen… Ernsthaft?

Lasst uns das mal im Detail ansehen:

Zuerst: die schriftliche Bewerbung. Sie ist eine von 3 Phasen im Auswahlprozess – für beide Seiten! 
(Die anderen Phasen sind übrigens Vorstellungsgespräch und Probezeit.)

Um überhaupt passende Kandidaten identifizieren zu können, sind 2 Informationen am Anfang wesentlich:

  1. Die Vergangenheit
    
Was hat der oder die Kandidatin bisher gemacht, gelernt? Welche Erfahrungen, Qualifikationen, Ausbildungen bringt er/sie mit? Der Ort dafür: der Lebenslauf. 
Aus der Wissenschaft wissen wir allerdings heute, dass die Vergangenheit ein höchst unzureichender Indikator dafür ist, ob jemand den künftigen Job ebenso gut macht. Erst recht bei Quereinsteigern (deren Lebenslauf gar nicht passt), Menschen mit vielen Brüchen im CV oder Berufsanfängern, die (per Definition) noch gar keine berufliche Vita besitzen. Trotzdem feiern Personaler und Bewerber den Lebenslauf als DAS einzig wahre Element der Bewerbung. Bemerkenswert!

  2. Die Zukunft
    Was ist die Motivation des Kandidaten für diesen Job, für dieses Unternehmen? Wie will er/sie seine Talente und Erfahrungen einsetzen und nutzen? Welchen Mehrwert bringt er/sie mit? Der Ort dafür: das Anschreiben.
Ebenfalls aus Forschung und Praxis wissen wir: Qualifikationen bringen in der Regel wenig. Jeder Job, jede Unternehmenskultur ist anders – und vieles lernen Neuzugänge ohnehin erst durch „Training on the Job“. Viel wichtiger ist daher der sog. Cultural Fit. Also: gemeinsame Werte und echte Motivation. Oder salopper: Ein Kandidat muss wirklich „Bock auf den Job“ haben. Mit Mitarbeitern, die du zum Jagen tragen musst, baust du keine Zukunft.


Erst beide Informationen zusammen – Blick nach hinten, Blick nach vorn – ergeben ein erstes, rundes Gesamtbild, das eine Vorauswahl auf solide Füße stellt. Ich persönlich finde sogar den Blick in die Zukunft (also das Anschreiben – oder moderner: ein Bewerbungsvideo) dramatisch wichtiger und aussagekräftiger als einen Lebenslauf. Der sich – nebenbei bemerkt – womöglich kaum von anderen Bewerbern unterscheidet…

Ja, so ein Anschreiben macht Mühe (obwohl es allein auf der Karrierebibel dafür viele kostenlose Anleitungen und Muster gibt) und erfordert auch etwas Hirnschmalz… Aber das bringt mich zum zweiten Punkt:

Warum sollte eine Bewerbung einfacher werden? Und ist sie überhaupt so schwer?

Liebe Personaler,

wenn ihr aktuell zu wenig Bewerber bekommt, dann liegt das nicht daran, dass die Bewerbungshürden zu hoch liegen, sondern weil ihr als Arbeitgeber nicht attraktiv oder sichtbar genug seid!!! Oder weil der Job einfach 💩 ist!

Die Antwort auf mangelnden Nachwuchs ist nicht, die Latte tiefer zu legen (sonst bekommt ihr nur mehr von den falschen Kandidaten), sondern mehr am Unternehmen, an den Jobs und am Employer Branding zu arbeiten! Ja, auch das macht mehr Mühe, als so zu tun, als sei man achso modern, weil man ja neuerdings auf das Anschreiben verzichtet. Aber es ist verdammt nochmal euer Job, die Unternehmenskultur zu verbessern und die Jobs so zu gestalten, dass sie in die Zeit passen, wenn ihr euch nicht selbst zu reinen Personalverwaltern degradieren wollt!

Und liebe Bewerber:

Solange IHR euch bewerben müsst, seid ihr NICHT in einem „Bewerbermarkt“! Wenn man euch 5 Jobs anbietet und ihr die Bedingungen dazu diktieren könnt – DANN ist es ein Bewerbermarkt. Solange ihr aber noch passende Stellen in Jobbörsen sucht, Bewerbungen schreibt und in Vorstellungsgesprächen überzeugen müsst, weil es Mitbewerber gibt (und das betrifft weiterhin die Mehrheit) – ist es ein ganz normaler Arbeitsmarkt mit Angebot und Nachfrage. Diese neuerliche Arroganz, „Arbeitgeber“ (man beachte das Wort!) müssten heute Entertainer und Glücklichmacher sein, führt nur in eine Abwärtsspirale aus falschen Erwartungen und beiderseitigen Enttäuschungen.

Um es klar zu sagen: Eine Bewerbung darf ruhig weiterhin Mühe machen, weil auch Jobs weiterhin Mühe machen. Arbeit heißt Arbeit, weil sie Arbeit macht! Natürlich darf der Spaß dabei nicht zu kurz kommen. Der viel zu oft zitierte Blödsinn von „Finde einen Job, den du liebst, und du musst nie wieder arbeiten“ stimmt aber nicht und führt auf den Holzweg. Auch ich liebe meinen Beruf seit Jahren – aber auch mein Job ist nicht jeden Tag wie Ferien auf Saltkrokan. Jeder (Buch-)Autor weiß zum Beispiel: Schreiben zu müssen, ist die Hölle; geschrieben zu haben, ist der Himmel…

Welches Signal senden wir gerade aus?



Glauben wir wirklich, dass sich jemand später in seinem Beruf (!) voll reinhängen und aufblühen wird, wenn er oder sie schon die potenziellen Stellen danach aussucht, ob die Bewerbung möglichst wenig Anspruch hat und Anforderungen stellt??? Wenn jemand wirklich davon überzeugt ist, dass das sein oder ihr Traumjob ist, dass er oder sie sich hier in den nächsten Jahren beruflich weiterentwickeln kann und will (!), dann ist so ein Anschreiben oder ein Bewerbungsvideo eine denkbar geringe Hürde.

Mal ehrlich: Wovon reden wir hier überhaupt? Ein professionelles Anschreiben ist nicht länger als eine DIN A4 Seite. Ziehen wir davon die Formalia wie Briefkopf und Grußformeln & Co. ab, bleibt netto eine halbe Seite. Maximal. Das sind vielleicht 4-5 Absätze. Jeder Schulaufsatz hat mehr Text! Und das stellt heute auf einmal eine sooo große Hürde dar, dass sie abgeschafft werden muss? Ernsthaft???

Ich formuliere es mal zugespitzt: Wenn dich 4 schmale Absätze, in denen du auf den Punkt kommen musst, warum du diesen Beruf, diesen Job willst und wie du dich dort sinnstiftend einbringen willst, bereits intellektuell überfordern: Wie willst du dann später dort Probleme lösen, deine Ideen präsentieren und Kollegen oder Kunden von deinen Projekten überzeugen? Kommunikation ist eine Schlüsselkompetenz. In so ziemlich allen Berufen. Und 4 Absätze schreiben, ist nun wirklich nicht viel verlangt…

Es sei denn, die Botschaft ist: „Reflektiere bitte nicht über deine berufliche Zukunft und was du bei uns arbeiten willst! Wir nehmen jeden, der nicht bei 3 auf den Bäumen ist und sorgen vor allem für deinen Lebensunterhalt. Dass wir auch als Unternehmen gemeinsam wachsen wollen, ist uns total egal…“

Und das Argument „Das klären wir alles im Vorstellungsgespräch“ ist reine Augenwischerei, weil es das Kernproblem nur auf später verschiebt. Erstens weiß niemand, ob ein Kandidat, der sich die selbstreflektierende Vorarbeit im Anschreiben erspart hat, diese später fürs Interview nachholt. Die Wahrscheinlichkeit ist sogar gering. Zweitens, dauern Interviews länger und kosten u.U. auch mehr, als erstmal Bewerbungen zu sondieren. Und drittens – wie gesagt – bekomme ich dadurch überhaupt nicht passendere oder bessere Bewerber, sondern nur mehr – was am Ende nur die Absagen-Quote erhöht oder (aus Verzweiflung) zu falschen Einstellungen führt.

Mir ist das wirklich ein Anliegen, hier mal Klartext zu reden – und ggfls. auch anzuecken. Aber was ich da so in jüngster Zeit im Netz lese, ist eher ein Nach-Dem-Mund-Reden-Um-Aufmerksamkeit-Und-Applaus-Zu-Erhaschen als echte Fachkompetenz.

Ich bin seit mehr als 30 Jahren Kenner und Begleiter des Arbeitsmarktes, seit mehr als 25 Jahren Führungskraft und seit mehr als 15 Jahren selber Arbeitgeber. Ich durfte in der Vergangenheit zahlreiche Menschen einstellen und ausbilden – überwiegend Journalisten, die heute Chefredakteure, Ressortleiter und Redakteure sind. Sie alle sagen zwar „harte Schule“ – aber ebenso „hat sich massiv gelohnt“. Ihnen stehen heute zahlreiche Türen offen. Und nicht, weil wir unsere Anforderungen oder Werte jemals gesenkt hätten, sondern weil wir Menschen gesucht und eingestellt haben, die die besten in ihrem Job werden wollten. Und das gilt nicht nur für Texter, sondern genauso für Handwerker oder Führungskräfte.

Ich bin überzeugt: Wissen und Abläufe kann man lernen – Motivation und Leidenschaft nicht. Aber nur mit Menschen, die Letzteres mitbringen, kann das eigene Unternehmen fliegen.

Gewinner erkennt man schon am Start! Und das beginnt durchaus bei der Bewerbung (steckt im Anschreiben), geht beim Interview weiter und zeigt sich schließlich in den ersten Ergebnissen – übrigens auch denen des Unternehmens, ob das „HR-Management“ wirklich einen guten Job macht…


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