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Wahlblindheit: Warum wir Fehlentscheidungen rechtfertigen

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Das ist gar nicht politisch gemeint, obwohl das Bonmot eigentlich dort herkommt. Mit der Wahl hört der Entscheidungsprozess vielmehr nicht auf: Jede Entscheidung erzeugt einen Rechtfertigungsdruck, weil wir über kurz oder lang mit der Frage konfrontieren werden: Warum hast du dich so und nicht anders entschieden? Dabei steht die eigene Wahlblindheit im Weg. Wir reden uns die Dinge gerne schön, um nicht als Depp dazustehen. Hier erfahren Sie, wie Wahlblindheit entsteht und wie Sie damit umgehen können…



Wahlblindheit: Warum wir Fehlentscheidungen rechtfertigen

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Wahlblindheit: Entscheidungen rechtfertigen

Entscheidungen treffen wir in der Regel für uns selbst. Wie wichtig die Rechtfertigung nach außen ist, wird dabei oft unterschätzt. Benjamin Scheibehenne von der Universität Basel untersuchte das: Er präsentierte Versuchsteilnehmern eine Liste mit karitativen Vereinen und Einrichtungen und fragte die Probanden, ob sie bereit wären, einen Euro zu spenden. Die Teilnehmer waren eingeteilt und konnten zwischen fünf, 40 und 80 Vereinen wählen.

Eine Hälfte der Teilnehmer sollte ihre Wahl zudem begründen. Die Frage: Warum wollen Sie genau für dieses Projekt spenden? Effekt:

  • Wer seine Entscheidung rechtfertigen sollte, spendete bei einer größeren Auswahl seltener als bei einer kleinen.
  • Wer sich hingegen nicht rechtfertigen musste, war deutlich spendabler, unabhängig von der Zahl der zur Wahl stehenden Optionen.

Die Angst, sich rechtfertigen zu müssen – und dies vielleicht nicht zu können – führte zu größerer Vorsicht. Auch Verhaltensökonom Aner Sela von der Universität Florida zeigt den Einfluss der Rechtfertigung. Er setzte Probanden verschiedene Eiscremesorten vor: Klassiker wie Schokolade und Sahnecreme, aber auch Sorbets mit Früchten und fettreduzierte Diätsorten. Sie ahnen schon: Mussten die Teilnehmer ihre Wahl begründen, wählten sie die gesunden Optionen.

Bereits der Gedanke, die Wahl rechtfertigen zu müssen, beeinflusst unsere Entscheidungen. Wir müssen mit Blick auf die Außenwirkung entscheiden – und eine gute Begründung parat zu haben.

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Choice Blindness: Ich habe mich sicher nicht geirrt!

Dazu gibt es ein spannendes Experiment der Psychologen Lars Hall und Petter Johansson von der Universität Lund in Schweden, das das ganze Ausmaß der Selbstmanipulation eindrucksvoll vor Augen führt: Nehmen wir an, Sie könnten zwischen zwei potenziellen Partnern wählen. Als Resultat wären Sie jedoch anschließend mit dem Menschen verbandelt, den Sie genau NICHT ausgesucht haben.

Würden Sie das merken? „Also, bitte: Was soll das für eine doofe Frage sein?“, denken Sie vermutlich. Natürlich würden Sie das merken! Ist der Partner blond statt wie gewählt brünett vielleicht – ganz so offensichtlich war es im Experiment aber nicht. Verblüffender noch: Selbst wenn den Probanden auffiel, dass der von ihnen per Foto ausgewählte Partner sich seltsam verändert hatte, hielten sie ihre Wahl für goldrichtig. Sie begannen sogar, die Partner vor anderen zu rechtfertigen.

  • Da gab es etwa einen Probanden, der schwor Stein und Bein, Frauen mit Ohrringen zu bevorzugen – dabei trug nur die von ihm abgelehnte Dame Ohrschmuck.
  • Ein anderer Kandidat sagte, ein Lächeln auf dem Foto wäre für ihn ausschlaggebend gewesen. Leider war auf dem Bild, das er anschließend in der Hand hielt, kein lächelndes Gesicht zu sehen.

Die Forscher gaben dem Phänomen später die Bezeichnung „Choice Blindness“; im Deutschen spricht man auch von Wahlblindheit. Kurz formuliert besagt diese: Wir merken häufig gar nicht, wenn wir uns geirrt haben. Und falls wir es doch merken, geben wir den Irrtum nur ungern zu und reden uns (und anderen) diesen richtig. Das im Hinterkopf fragen Sie sich jetzt bitte mal, warum Sie schon so lange den Job machen, mit dem Sie aktuell Ihr Geld verdienen, aber dabei irgendwie nicht glücklich sind…

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Kognitive Dissonanz: Wenn Wahlblindheit zum Rechtfertigungszwang wird

Im Kern wünschen wir uns eine widerspruchsfreie Welt. Widersprüche sind uns zutiefst unangenehm und nur schwer zu ertragen. Im Fachjargon spricht man dabei von kognitiver Dissonanz. Dieser negative Gefühlszustand entsteht, wenn wir mit unvereinbaren Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünschen oder Absichten konfrontiert werden. So auch, wenn wir nach einer Entscheidung glauben oder erfahren, dass die andere Wahl besser gewesen wäre. Oder wenn unser strahlendes Selbstbild ein paar Kratzer bekommen hat.

Oft zeigt sich dies im Internet. Wird der eigene Kommentar von anderen korrigiert oder ein Fehler angemerkt, ist es für viele unerträglich. Die Reaktion: Statt den Denkfehler zuzugeben, geht es in die Vorwärtsverteidigung. Es wird ein Fass nach dem anderen aufgemacht – Hauptsache man behält irgendwo recht. Passend zur Wahlblindheit beharren wir auf unserem Entschluss.

Beispiele der Rechtfertigung und Wahlblindheit

Von den meisten Menschen werden solche Kehrtwenden zwar bemerkt (und zuweilen auch kritisch hinterfragt), danach aber fühlt sich die Welt deutlich besser an. Es fehlt vielleicht die plausible Erklärung für den plötzlichen Sinneswandel. Aber welche Lösung ist schon perfekt? In der Politik und im Beruf sind solche Manöver allerdings nicht ungefährlich. Wer zu viele 180-Grad-Haken schlägt, verliert massiv an Glaubwürdigkeit. Neben dieser ziemlich durchschaubaren Methode gibt es aber noch eine zweite Option: herunterspielen und herabwürdigen.

Das lässt sich zum Beispiel regelmäßig an Rauchern beobachten. Auf die gesundheitlichen Folgen des Qualmens angesprochen, kontern diese gerne: Das Leben sei generell gefährlich; man könne genauso gut morgen von einem Auto überfahren werden. Ohnehin sei die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, längst nicht so hoch, wie alle behaupteten, es gebe ja genügend richtig alte Raucher. Und überhaupt: Was sei mit Helmut Schmidt? Der rauchte seit zwoundtrölfzig Jahren Kette und starb auch nicht an Lungenkrebs!

Ähnlich ist es mit Wahlblindheit im Job. Man steckt nicht fest, die Beförderung kommt nur etwas später. Natürlich wusste man, dass häufig Überstunden anstehen und hat sich bewusst dafür entschieden.

Kurz gesagt: Wir sind um eine Ausrede nie verlegen, wenn es darum geht, kognitive Dissonanzen zu minimieren und unsere Entscheidungen vor uns selbst zu rechtfertigen.

Der Wunsch nach Absolution

Neben dem gefühlten Zwang, sich rechtfertigen zu müssen, gibt es aber auch das Gefühl, sich unbedingt für seine Entscheidung rechtfertigen zu wollen. Also das Bedürfnis, die eigene Entscheidung vor anderen zu begründen und zu verdeutlichen, wieso man sich so und nicht anders entschieden hat. Die Antriebskraft hinter diesem Rechtfertigungsdrang ist Unsicherheit.

Wir wollen Absolution von unseren Mitmenschen erhalten. All die Rechtfertigungen, mit denen wir eine Wahl ausschmücken, und egal, welche Gründe wir anführen, verfolgen nur ein Ziel: die eigene Entscheidung bestätigt zu bekommen. Die Aktion dient als Beruhigungspille. Aber warum bedeutet uns die Bestätigung durch andere so viel? Meist spielen dabei drei Motive eine Rolle:

  • Der Wunsch nach Unterstützung

    Manche Entscheidungen haben schwerwiegende Konsequenzen. Wer seinen Job kündigt und sich selbstständig macht, geht in eine ungewisse Zukunft. Im Vorfeld alleine abzuschätzen, ob die Entscheidung tatsächlich richtig ist, ist für viele eine nervliche Zerreißprobe. Gut, wenn uns dann jemand sagt: „Gute Wahl! Das würde ich auch so machen!“

    Natürlich weiß auch diese Person nicht, was die Zukunft bringt. Aber Sie hat unsere Wahl bewertet, bestätigt und gutgeheißen – und sich damit (zumindest moralisch) verbündet. Gefühlt machen wir uns jetzt nicht mehr ganz so alleine selbstständig, sondern haben einen Paten, den man in schweren Zeiten genau wegen dieser Verbrüderung anrufen und um Rat oder Rückendeckung bitten kann.

    Manche nutzen das freilich auch aus, um bei Rückschlägen Schuldige zu suchen, Motto: „Du warst es doch, der mir damals geraten hat, den Job zu kündigen!“ Das ist natürlich weder nett, noch zeugt es von charakterlicher Reife. Aber es bedeutet für den einen oder anderen durchaus eine Wahlerleichterung im Hier und Jetzt. Was gleich zum nächsten Motiv führt…

  • Die Angst vor den Konsequenzen

    Der Zuspruch, den man erhält, macht es deutlich einfacher, sich auf mögliche Folgen einzustellen. Im Hinterkopf manifestiert sich der Gedanke: Die anderen wissen, warum ich mich so entschieden habe, können es nachvollziehen und stehen hinter der Entscheidung.

    Wir rechtfertigen uns also auch deshalb vor anderen, um diese auf unsere Seite zu bringen und nicht auf uns allein gestellt zu sein, sollte das Schlimmste eintreten. Die Konsequenzen sind dann einfach nicht mehr so peinlich. Mehr noch: Wir müssen uns kaum noch für diese rechtfertigen – das haben wir schließlich schon im Vorfeld bei der Entscheidung getan.

  • Der Versuch, ein besseres Selbstbild zu erzeugen

    Auch wenn Rechtfertigungen häufig der eigenen Unsicherheit entspringen, helfen sie doch dabei, ein positives Selbstbild zu erzeugen. Schließlich können wir uns – coram publico – selbst zeigen, dass wir gute Gründe für diese Wahl hatten. Die Botschaft: Wir haben offensichtlich alles richtig gemacht. Jeder Zweifel, der möglicherweise am eigenen Handeln oder gar der eigenen Entscheidungsfähigkeit aufkommen könnte, wird im Keim erstickt und zurückbleibt die scheinbare Unantastbarkeit der eigenen Wahl. Bravo!

    Dabei handelt es sich allerdings meist um eine Maske, die nach außen hin zur Schau getragen wird, um ein bestimmtes Image zu erzeugen. Nicht ungefährlich. Denn kratzt einer gekonnt an dieser Fassade, gerät das so aufgebaute Selbstbild massiv ins Wanken.

Seine Entscheidungen (auch durch Wahlblindheit) zu rechtfertigen, kann also widersprüchliche Auswirkungen haben. Auf der einen Seite beeinflusst es die Wahl von vornherein – nicht unbedingt zum Besseren. Auf der anderen Seite sorgt es dafür, dass wir uns insgesamt mit der getroffenen Entscheidung wohler fühlen.

Dabei sollte eine Rechtfertigung nie zur Entschuldigung werden. Vielleicht wollen Sie Schadensbegrenzung nach einem falschen Entschluss betreiben – doch die Wirkung verpufft und verkehrt sich ins Gegenteil. Aus der Selbsterklärung wird eine Selbstoffenbarung. Das ist dann tatsächlich peinlich.

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Sowohl-als-auch statt Entweder-oder

Ganz oft müssen wir mit solchen Widersprüchen trotzdem leben. Die Gefahr darin ist daher eine andere: Weil uns solche Widersprüche unbefriedigt zurücklassen, wollen wir eine einfache Lösung. Schnell. Sofort. Die aber führt mitunter zu echten Fehlentscheidungen. Kognitive Dissonanz nötigt uns dabei in eine Entweder-oder-Haltung:

  • Freiheit oder Sicherheit?
  • Ordnung oder Chaos?
  • Nähe oder Distanz?
  • Vertrauen oder Kontrolle?

Dahinter steckt digitales Denken (null oder eins), das uns übersehen lässt, dass beide Optionen zuweilen auch nebeneinander existieren können. Manche scheinbaren Gegensätze schließen sich überhaupt nicht aus, sondern können sich wunderbar symbiotisch ergänzen das eine tun, das andere nicht lassen.

Aus dem engen Korsett des Entweder-oder wird so ein luftiges Sowohl-als-auch. Kompromisse sind typisch für solche Entscheidungen, die deswegen nicht zwangsläufig einen Mittelweg im Sinne einer Fifty-fifty-Lösung darstellen müssen. Auch ein 80-20-Resultat kann helfen, das Beste aus beiden Optionen zu vereinen und unsere Ansprüche maximal zu befriedigen. Das ist – zugegeben – leichter gesagt als getan. Aber deswegen nicht unmöglich.

Schon aus den bisherigen Erkenntnissen lassen sich drei Empfehlungen gegen die Wahlblindheit und für bessere Entscheidungen ableiten:

  • Hören Sie auf, nach dem „richtigen“ Weg zu suchen.
    Der Begriff „richtig“ suggeriert bereits, dass es immer eine allgemeingültige Lösung beziehungsweise Entscheidung gäbe. Für die meisten unserer Alltagsentscheidungen trifft das überhaupt nicht zu. „Richtig“ muss eher im Kontext von „für mich richtig“ oder „in diesem Moment richtig“ gesehen werden. Wer das im Hinterkopf behält, dem fällt es leichter, sich von überhöhten Erwartungen zu lösen.
  • Verabschieden Sie sich vom Schwarz-Weiß-Denken.
    All die Kategorien – Entweder-oder, Ja-nein, Richtig-falsch – zwingen uns in zweidimensionale Denk- und Entscheidungsstrukturen. Statt verschiedene Optionen als unvereinbare Gegensätze zu begreifen, können Sie diese auch als Teile eines Ganzen betrachten. Dann müssen Sie nicht das eine für das andere aufgeben, sondern sind frei, nach einem Weg zu suchen, um beide Seiten miteinander zu verbinden.
  • Ergänzen Sie Ihre Wahl um die zeitliche Dimension.
    Was gerade wichtig und richtig ist, muss es morgen schon nicht mehr sein. Umstände und Konstellationen können sich ändern. Die bessere Entscheidung ist daher häufig jene, die wir langfristig treffen – also mit Blick auf die Zukunft. Dazu kann auch gehören, hier und jetzt noch keine Entscheidung zu fällen. Denn auch das verheimlicht das Entweder-oder-Denken: Es gibt immer eine dritte Option – die, keine Wahl zu treffen. Zumindest nicht im Moment. Das ist auch eine Entscheidung. Und je bewusster wir diese treffen, desto besser.

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