Immer da: Dieses Gefühl, beobachtet zu werden
Manche Arbeitsplätze haben eine unschöne Begleiterscheinung. Eine, der man kaum auszuweichen vermag. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Ständig, immer, permanent. Im Uni-Hörsaal in der ersten Reihe oder inmitten des Großraumbüros – wen beschleicht da nicht das ungute Gefühl, angestarrt zu werden?
Das Phänomen ist auch sonst im Alltag präsent. Wenn man in der Bahn sitzt, an der Ampel steht oder über den Radweg radelt. Die Leute beobachten einen doch, oder etwa nicht?
Aber woher kommt dieses Gefühl?
Beobachtet werden: Einbildung?
Schon Edward Titchener machte sich darüber so seine Gedanken. Der Psychologe schrieb vor fast 120 Jahren einen Beitrag mit dem Titel: The feeling of being stared at.
„Wir alle sind mehr oder weniger nervös angesichts dessen, was sich in unserem Rücken abspielt“, schrieb er und machte das an einer Anekdote deutlich.
„Ein Freund von mir lernte tanzen und er sagte mir, dass es ihm richtiggehend Schmerzen bereitete, dem Tanzlehrer den Rücken zuzudrehen und dass es für ihn eine Erleichterung sei, wenn er sich dem Rücken des Tanzlehrers zuwenden durfte.“ Titchener kam zu dem Schluss, dass es sich bei dem Phänomen weitgehend um Einbildung handele.
Denn mal angenommen, Sie sitzen tatsächlich in der ersten Reihe im Hörsaal und haben das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden. Die Anspannung nimmt zu, ein beklemmendes Gefühl steigt in Ihnen auf. Sie fangen an, mit den Fingern zu spielen, gucken sich verschwörerisch um. Ihre Macken machen die anderen auf Sie aufmerksam mit der Folge, dass Sie nun wirklich beobachtet werden. Eine typische selbsterfüllende Prophezeiung also.
Zum gleichen Schluss wie Titchener kam 15 Jahre später auch ein anderer Psychologe, John Edgar Coover. Coover führte zunächste eine Umfrage durch. Demnach kannte sogar eine Mehrheit der Bevölkerung damals im frühen 20. Jahrhundert das Gefühl, beobachtet zu werden, erkannte sich darin wieder.
Zehn von ihnen pickte sich Coover für ein Experiment heraus. Die Probanden mussten sich Cooper gegenübersetzen, allerdings mit dem Rücken zugewandt. Dann nahm sich der Psychologe seinen Würfel und würfelte – insgesamt 100 Mal.
Zeigte das Spielgerät eine ungerade Zahl, starrte Coover die Person 15 Sekunden lang an. Bei einer geraden Zahl ließ er das Anstarren sein. Nach jedem Intervall sollte der Proband nun sagen, ob er sich beobachtet gefühlt hatte oder nicht.
Ergebnis: In 51,8 Prozent der Fälle hatte der Würfel eine ungerade Zahl gezeigt. Und in 50,2 Prozent der Fälle lagen die Teilnehmer mit ihrem Tipp richtig. Der Beweis: Alles völliger Zufall und pure Imagination!
Es hat Vorteile, sich beobachtet zu fühlen
Dass das Gefühl, beobachtet zu werden, nur unserer eigenen Vorstellung entspringt, scheint einleuchtend. Aber woher kommt es?
Die Antwort führt uns offenbar – einmal mehr – in die Evolutionsgeschichte des Menschen. Und in seine Physiognomie.
„Unsere Augen haben eine so außergewöhnliche Form, dass sie leicht Aufmerksamkeit erregen und die Richtung eines Blicks verraten“, schrieb Oxford-Neurowissenschaftlerin Harriet Dempsey-Jones in einem Online-Beitrag für The Conversation. „Tatsächlich unterscheidet sich die Struktur unserer Augen von fast allen anderen Spezies. Der Bereich im Auge, der die Pupille umgibt, ist sehr groß und komplett weiß. Das macht es sehr leicht, die Blickrichtung zu erkennen.“
Bei vielen Tieren dagegen ist die Pupille größer. Das kann ihnen einen Überlebensvorteil bringen, da feindliche Raubtiere nicht sofort erkennen, in welche Richtung sie sehen.
Unsere Angst vor fremden Blicken ist also – evolutionär gesehen – ein Mechanismus, der uns vor physischer Gefahr schützt. „Ein direkter Blick kann Dominanz oder Gefahr signalisieren, und wenn Sie etwas als Gefahr einordnen, würden Sie es nur ungern übersehen wollen“, so Colin Clifford, Verhaltenswissenschaftler an der Universität von New South Wales. „Wenn man also davon ausgeht, dass die andere Person einen anschaut, ist das einfach die sicherere Strategie.“
Blicke: Mittel der Kommunikation
Die Angst vor der Beobachtung – früher eine reine Abwehr gegen physische Gefahren, heute auch gegen soziale. Denn jemand, der sich beobachtet fühlt, wird sich eher an Konventionen und Regeln halten, um die Umgebung, auf die er angewiesen ist, nicht zu sabotieren. Und er wird vor- und umsichtiger agieren.
Klar: Wer sich im Büro auf dem Präsentierteller wähnt, surft nicht wild im Internet oder lackiert sich die Nägel. Das tut man nur in einer unbeobachteten Minute. Getreu der Redewendung:
Gelegenheit macht Diebe. Eine Gelegenheit für Diebe ergibt sich logischerweise dann, wenn sie wissen, nicht beobachtet zu werden.
„Grundsätzlich versorgen uns die Augen mit Erkenntnissen darüber, dass etwas Wichtiges passiert„, so Dempsey-Jones. Vor allem sind sie ein Kommunikationsmittel, ein äußerst effektives noch dazu. Blicke als Waffe und Werkzeug, um Interesse, Zustimmung, sexuelle Anziehung oder Gefahr zu signalisieren.
Mechanismus der Evolution
Letztlich scheint es sich also um einen Mechanismus zu handeln, den uns die Evolution mitgegeben hat. „Wir sind darauf programmiert zu glauben, dass andere uns anstarren“, so Clifford.
Jetzt müsse man nur noch herausfinden, so Clifford, ob es dieses Verhalten erlernt oder genetisch bedingt ist. Dann wüsste man auch, warum Autisten mitunter nur schwer erkennen können, ob sie beobachtet werden und warum Sozialphobiker im Gegenzug unter permanentem Verfolgungswahn leiden…
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