Müßiggang: Warum Nichtstun hohe Kunst ist

Müßiggang ist aller Laster Anfang. Heißt es. Vergessen wird dabei allerdings, dass er genauso oft Ursprung guter Gedanken und großartiger Ideen ist. Sagen wir es, wie es ist: Die hohe Kunst des süßen Nichtstuns ist uns abhanden gekommen. Statt unseren Gedanken ab und an genussvoll beim Verklären zuzuschauen, schuften wir den ganzen Tag im Büro und sind auch noch stolz darauf, im Hamsterrad die Bodenhaftung trotz zunehmenden Tempos zu behalten. Chapeau! Aber dumm. Statt uns über optimiertes Zeitmanagement, kluge To-Do-Listen und mehr Work-Life-Balance den Kopf zu zerbrechen und darüber, möglichst rund um die Uhr beschäftigt zu sein, sollten wir uns hin und wieder der Muße hingeben – übrigens mit ganz famosen Effekten…

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Müßiggang: Bessere Ideen ohne Leistungsdruck

Müßiggang oder dessen ordinäre Schwester, die Langeweile, werden gemeinhin unterschätzt. Wo Langeweile herrscht, regiert angeblich immer sofort Trübsinn im Gemüt, geistiger Leerlauf, Ödnis im Oberstübchen. Ein schauderhafter Gedanke! Ein zeitlanges Martyrium ohne Impuls: „Die Langeweile ist eine der furchtbarsten Plagen unserer Zeit“, befand einst Erich Fromm. Eben noch war das Leben spannend, abwechslungsreich und interessant. Nun sitzen wir da, allein mit uns und unseren Gedanken und müssen die Zeit totschlagen. Kalter Adrenalin-Entzug.

Für manche ist das ein beängstigendes Szenario. Weniger wegen der scheinbar tumben Eintönigkeit, sondern eher wegen der unerträglichen Vorstellung, sich mit sich selbst beschäftigen zu müssen. Zugegeben, das kann in einigen Fällen tatsächlich grausam sein. Muss es aber nicht.

Alex Pouget, Professor und Hirnforscher an der Universität von Rochester, forscht schon eine Weile auf dem Gebiet der Mußestunden und kam zu dem Schluss: Die besten Entscheidungen treffen wir unbewusst – also ohne große Anstrengungen und Leistungsdruck.

Wie Müßiggang die Hirnfunktionen anregt

In dieselbe Kerbe schlägt auch Gottlieb Guntern. Der Schweizer Psychiater und Kreativitätsforscher ermittelte schon vor einer ganzen Weile: Entspannung und Zerstreuung sind das A und O, damit kreative Gedanken aufblühen können. Schon ein simpler Spaziergang zwischendurch hilft, dass wir besser lernen, klarer denken, mehr Ideen bekommen.

Zahlreiche Künstler, Dichter und Gelehrte hatten dieses Verlangen nach Kurzweil und suchten die Ablenkung vom Alltag in der Natur:

  • Friedrich Nietzsche zum Beispiel wählte das kühle Klima des Engadin, um „Also sprach Zarathustra“ zu schreiben.
  • Richard Wagner fand in den Gärten der Villa in Ravello die Inspiration für das Bühnenbild des 2. Aktes seiner Oper Parsifal.
  • Und die ostitalienische Stadt Ravenna, direkt an der Adria gelegen, inspirierte schon Dante Alighieri, Lord George Gordon Byron oder Gustav Klimt.

Untersuchungen von Charles Hillman von der Universität von Illinois bestätigen das. Er konnte zeigen, dass schon kurze Pausen mit körperlicher Bewegung enorm die Hirnaktivität anregen. Anschließend verbesserten sich bei den Probanden Reaktionszeiten, Konzentrationsvermögen und die Fähigkeit, schnell zwischen verschiedenen Aufgaben hin und her zu wechseln. Welch enormen Unterschied schon eine 20-minütige „bewegte“ Pause im Gehirn ausmachen kann, zeigen eindrucksvoll die Hirnscans der 241 Probanden (hier als Durchschnittswert):

Muessiggang Bewegung Spazieren Hirnfunktion Grafik

Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch die Untersuchungen von Marily Oppezzo und Daniel L. Schwartz. Bei ihnen verbesserten sich die kognitiven Leistungen der Probanden durch bloßes Spazierengehen um 23 Prozent. Natürlich muss man nicht gleich Urlaub machen und bis zur Adria reisen, um derlei Effekte zu nutzen. Die schöpferische Kraft lässt sich auch im Alltag durch ein wenig mehr Müßiggang und Abwechslung steigern.

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Langeweile? Viel besser als ihr Ruf!

Nur allzu oft steht der Müßiggänger und Langeweiler mit dem Nichtsnutz und dem Faulenzer ohne Arbeitsethos auf einer Stufe. Man denke nur an die Novelle des Dichters Joseph von Eichendorff: „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Doch das deutsche Pflichtbewusstsein und der Ethos dahinter führen zu einem gefährlichen Irrglauben.

Gewiss, Langeweile kann quälend sein. Langweilig eben. Aber das ist keineswegs eine Kausalität. Wer die untätige Auszeit und Mußestunde als unnütze Zeitverschwendung verunglimpft, übersieht leider deren wertvolle Kehrseiten. Wer einfach mal nichts tut und sich freudig der Langeweile hingibt, der…

  • trainiert seine Fähigkeit, sich in Geduld zu üben.
  • bekommt die Chance, kreativ zu werden.
  • findet Zeit, zu beten oder zu meditieren.
  • kann sich selbst besser kennenlernen.

Langeweile – ein Motor für Innovationen

Schon Friedrich Nietzsche erkannte: „Man erntet als Lohn für vielen Überdruss, Missmut, Langeweile jene Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die Natur.“ Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanze, verschanze sich somit auch gegen sich selbst. Auch Johann Wolfgang von Goethe konsultierte pointiert: „Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden.“

In diesem Licht betrachtet, ist die Langeweile vielleicht sogar einer der größten Innovationsmotoren: Was hat der Mensch nicht alles ersonnen, um ihr zu entgehen?! Herrliche Gärten, Museen, Fernseher, Abenteuerreisen, Computerspiele, Vergnügungsparks, Meetings… Miguel de Unamuno befand sogar: „Eine gewisse Anzahl von Müßiggängern ist notwendig zur Entwicklung einer höheren Kultur.“ Wahrscheinlich verdanken manche Zeitgenossen das Glück ihrer Geburt allein dem Umstand, dass sich ihre Erzeuger eines Abends langweilten. Ja tatsächlich, die Langeweile kann ein spannendes Abenteuer sein – mit ungewissem Ausgang inklusive. Man muss dafür nur offen sein.

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Genuss, Gelassenheit und Müßiggang

Mihaly Csikszentmihalyi, einer der namhaftesten Kreativitätsforscher und ehemaliger Psychologe an der Universität Chicago, befragte einmal rund 100 kreative Persönlichkeiten, darunter Chemiker, Physiker, Nobelpreisträger, aber auch Schriftsteller oder Musiker, nach ihren Inspirationsquellen. Ergebnis: Es war vor allem die Umgebung, die Eingebungen provozierte. Besser ist also, seinen Horizont und seine Wahrnehmung ständig zu erweitern: etwa durch Lesen, Besuche in Museen. Selbst das Umstellen des Schreibtisches kann schon inspirieren. Der Trick ist lediglich, eingefahrene Verhaltensmuster und Denkpfade bewusst zu verlassen und die Seele ein wenig baumeln zu lassen.

Wir brauchen mehr Mut zur Muße!

Man denke nicht nur an ein „Recht auf Arbeit“, sondern auch an ein „Recht für Muße“. Das schreiben wir vor allem für die Rastlosen, die Geschäftigen, die auf Leistung gepolten Menschen, die meinen, alles müsse einen Nutzen haben und Faulheit sei falsch. Mit dem Müßiggang verhält es sich genauso wie mit guter Bildung: Beide durchlüften den Geist, geben uns Zeit und Neues zum Denken, sind aber mitunter völlig zweckfrei.

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Müßiggang ist eine Ode an die Öde

Aus demselben Grund besitzen übrigens auch Tagträumereien einen schlechten Ruf. Sie werden häufig mit mangelnder Disziplin und einer schlechten Auffassungsgabe gleichgesetzt. Sigmund Freud ist daran nicht ganz unschuldig. Er unterstellte dem Tagträumen seinerzeit, die Entwicklung von neurotischen Beschwerden zu begünstigen. Das ist längst widerlegt! Das Gegenteil ist richtig: Träumer und Müßiggänger sind kreativer, ausgeglichener und finden oft auch die besseren Lösungen für Probleme. Vermutlich erkranken sie auch nie an einem Burnout.

Nur allzu oft erliegen wir der eitlen Illusion, für eine gewisse Zeit nicht erreichbar zu sein oder keine Entscheidungen zu treffen, würde den Untergang des Abendlandes einleiten oder uns sozial isolieren. Ein fast schon hysterischer Kurzschluss, der sich leicht falsifizieren lässt. Nicht wenige stellen nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub verblüfft fest: Egal, wie lange sie weg waren – die Firma hat überlebt, die Freunde sind noch da, und es gibt ein Leben nach der Auszeit.

Weil Langeweile und Mußestunden auf viele so bedrohlich wirken, bekämpfen sie diese sofort mit Zuständen heftiger Ablenkung: Sie schalten die Glotze an, gehen joggen oder shoppen, stemmen Hanteln, saufen, telefonieren, simsen (was sich an Bahnsteigen und Bushaltestellen vortrefflich beobachten lässt) oder dressieren den inneren Schweinehund. Wir sehnen uns nach Abwechslung, Heiterkeit und Trubel – und vergessen, dass man sich auch in Gesellschaft und Aktion bestens langweilen kann.

Jeder, der schon einmal auf Partys gepilgert, über Vernissagen geschlendert ist oder Kongresse besucht hat, weiß, wie öde das sein kann, belanglose Gespräche zu führen, über das Wetter zu plaudern und über die Kurven des Börsenkurses oder die der Besucherin in der Ecke hinten links zu dozieren.

Dabei braucht unser Körper von Zeit zu Zeit genau das: runterkommen, gelassen werden, schwelgen und eben den Gedanken beim Verklären zusehen. Was viele nicht wissen: Der Müßiggang war einst ein Privileg des Adels. Seien wir doch froh, dass wir alle ihm heute frei nachgehen dürfen. Und lebensklug ist das auch.


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