Definition: Was ist der Rezenz-Effekt?
Bei diesem Psycho-Effekt kommt unserem Kurzzeitgedächtnis große Bedeutung zu.
Jeder kann das bei sich selbst beobachten: Sie haben vielleicht gerade ein Buch gelesen, dass etliche langweilige Stellen mittendrin hatte. Ist das Ende aber plötzlich packend, wird das Buch insgesamt gut bewertet.
In Fachkreisen ist dieses Phänomen als Rezenz-Effekt (Englisch: recency effect) bekannt. Es gibt eine Reihe von Studien, die darauf hindeuten, dass wir die zuletzt erlangten Informationen am besten erinnern und diese auch am stärksten nachwirken.
Sehr schön beobachten lässt sich der Rezenz-Effekt bei kleinen Kindern: In Studien sollten sie anhand von Entweder-oder-Fragen Entscheidungen fällen, beispielsweise ob sie gerne Kuchen oder Brokkoli essen würden. Die überwiegende Mehrheit (circa 85 Prozent) der Eineinhalb- bis Zweijährigen entschied sich für die zweite Option.
Und das nicht, weil Brokkoli plötzlich zur Lieblingsspeise aller Kleinkinder würde, sondern weil der Arbeitsspeicher im Gehirn der Unter-Dreijährigen noch mit dem zuletzt Gehörten belegt sei. So lässt sich natürlich hervorragend manipulieren: Eltern brauchen einfach nur die gesunde Variante zuletzt zu nennen und ihr Kind wird sich immer gegen die Süßigkeiten entscheiden.
Guten Appetit: Der letzte Bissen entscheidet
Eigentlich wollen wir uns gesund und abwechslungsreich ernähren. Die Wahrheit aber ist: Die meisten unserer Essgewohnheiten sind erschreckend eintönig und repetitiv. Trotz zahlreicher Optionen wählen wir in der Kantine doch wieder nur Schnitzelpommes oder trotten zur Schnellbraterkette um die Ecke. Wie gestern auch schon.
Abends ist das übrigens nicht viel anders: Da heißt die Monotonie nur euphemistisch Lieblingsrestaurant. Nur warum machen wir das?
Emily Garbinsky, Psychologin an der Stanford Universität, wollte den kognitiven Prozessen hinter der Ernährungseintönigkeit auf die Spur kommen und hat mit ihrem Team dazu einige Experimente initiiert. Ihnen ging es vor allem darum, herauszufinden, warum wir uns immer wieder für denselben (Lieblings-)Burger entscheiden, erneut zum gleichen Sandwich greifen – und das obwohl die bekanntermaßen teuer sind und nicht lange satt machen.
Oder vielleicht gerade deshalb? Erinnerungen spielen dabei ganz offenbar eine entscheidende Rolle. Aber ist es wirklich die Geschmacksexplosion im Mund, die wir dabei erleben? Die Raffinesse mit der der Koch sein Mahl zubereitet hat? Oder ist es – ganz banal – der Sättigungsgrad hinterher?
Garbinskys These war: Nicht irgendwelche Erinnerungen sind entscheidend, sondern vor allem der letzte Eindruck zählt. Auf die Mahlzeit übertragen hieße das: Das Essen mag noch so aufregend, abwechslungsreich und raffiniert sein. Der letzte Bissen entscheidet.
Also baten Emily Garbinsky und ihr Team die Probanden ein wenig aufregendes Mahl zu sich zu nehmen: Kekse. Die einen bekamen jedoch nur fünf Kekse zu essen, während die zweite Gruppe ganze 15 davon verputzen sollte. Sie können sich denken, was passierte: Die erste Gruppe, hatte schnell wieder Hunger; die zweite war danach pappsatt.
Tags darauf wurden die Probanden erneut gefragt, ob sie wieder Kekse essen würden. Das Resultat war mehr als eindeutig: Sie alle erinnerten sich noch gut an den letzten Happen – von dem sie gerne noch mehr gehabt hätten oder den sie gerade eben noch schlucken konnten. Kurzum: Die erste Gruppe hätte gerne auch am zweiten Tag noch Kekse gehabt, die zweite lehnte dankend ab: Bitte nicht schon wieder!
Entscheidend dafür, ob wir eine Mahlzeit genießen und uns gerne daran erinnern, sind nicht der Auftakt, der Aperitif oder das Ambiente, davon erinnern wir kaum etwas. Es ist der letzte Happen, das Finale. Danach entscheiden wir: Da geh ich wieder hin und nehme dasselbe nochmal!
Primäreffekt als Gegenstück zum Rezenz-Effekt
So ganz falsch ist es natürlich nicht, dass auch der erste Eindruck zählt. Hier spricht die Wissenschaft vom sogenannten Primär-Effekt (Englisch: primacy effect). Dieser besagt, dass zuerst eingehende Informationen besser erinnert werden als solche, die zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen werden.
Die Erklärung liegt darin, dass bei völlig neuen Informationen diese leichter im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden. Das muss man sich wie eine unbeschriebene Festplatte vorstellen, auf der noch keine anderen Informationen aus diesem Themenbereich abgelegt sind.
Dieses Phänomen erklärt auch, warum sich Vorurteile so hartnäckig halten – es müssen erst andersartige Erfahrungen zu einem Thema gemacht werden, die ein Umdenken bewirken.
Was ist denn nun entscheidend, werden Sie sich fragen – Primär-Effekt oder Rezenz-Effekt? Eine letztgültige Antwort gibt es darauf nicht. Es kommt tatsächlich auf die Situation an, in einigen Fällen lässt sich sogar eine Kombination aus beiden Effekten, der Primacy-Receny-Effekt, beobachten.
Einsatz des Rezenz-Effekt im Berufsleben
Auch wenn sich der Rezenz-Effekt bei Erwachsenen nicht ganz so drastisch auswirkt wie bei Kleinkindern: völlig verschwindet der Einfluss nicht. Es gibt verschiedene Situationen im Berufsleben, in denen Sie sich die Wirkung zunutze machen können beziehungsweise davon profitieren:
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Vorstellungsgespräch
In einem Vorstellungsgespräch reicht der Rezenz-Effekt allein nicht; hier müssen Sie von Anfang an punkten. Und das Gemeine: Der Rezenz-Effekt greift ja auch ohne Ihr Zutun – er gereicht Ihnen unter Umständen zum Nachteil, wenn Sie ein Kandidat von vielen in einer Reihe sind und der Personaler nach Ihnen noch drei weitere interviewt. Aber Sie können ihn auch für sich einsetzen: Am besten schneiden Sie ab, wenn Sie in einer Selbstpräsentation mit einer Stärke beginnen, zwischendurch die weniger ausgeprägten Fähigkeiten (sofern für die Stelle relevant) erwähnen und mit einer besonders starken Eigenschaft Ihre Aufzählung abschließen.
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Verhandlungen
Ganz gleich, ob Sie in einer Diskussion um Argumente ringen oder ob es um eine Gehaltsverhandlung geht: Die meisten setzen den Rezenz-Effekt – bewusst oder unterbewusst – ein: Das stärkste Argument kommt immer zum Schluss. Es hallt am längsten nach und bleibt haften. Ein „doppelter Hattrick“ gelingt Ihnen bei einer Gehaltsverhandlung, wenn Sie es schaffen, den Primär- und den Rezenz-Effekt zu kombinieren.
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Kritik
Konstruktive Kritik zu üben, ist nicht einfach. Viele bedienen sich daher der sogenannten Sandwich-Kritik und greifen auf den Rezenz-Effekt zurück: Damit sich die negative Rückmeldung leichter schlucken lässt, wird sie watteweich in Lob verpackt. Vor allem das letzte Lob bleibt dann haften und mildert so die eigentliche Schelte.
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Psycho-Effekt beim Essen nutzen
Aus den obigen Untersuchungen lässt sich allerlei ableiten: Unser Appetit ist längst nicht so spontan, wie wir meinen. Selbst beim Essen sind wir Gewohnheitstiere und manipulierbar bis in den Magen.
Doch das lässt sich auch nutzen:
- Für Restaurant-Besitzer etwa ließe sich schlussfolgern, dass kleine Portionen besser sind als überdimensionale. Nicht All-You-Can-Eat-Angebote bringen mehr Stammkunden, sondern eher ein vorzügliches Dessert oder ein Amuse-Gueule, das diesmal zum Schluss serviert wird – vielleicht als kostenloser Gruß aus der Küche.
- Für unsere Ernährung bedeutet das: Mampfen Sie sich mit Burgern mal so richtig voll, bis nichts mehr geht, wenn sie damit für eine ganze Weile Schluss machen wollen. Und überhaupt: Jetzt, wo Sie den Effekt kennen: Gehen Sie raus und probieren Sie mal was Neues – entgegen aller Gewohnheitstriebe!
- Auch auf Geschäftsessen lassen sich die Erkenntnisse übertragen: Wollen Sie, dass sich Ihre Partner an ein gelungenes Lunch (oder Dinner), perfektes Mahl und perfekten Gastgeber erinnern, wählen Sie ein Restaurant mit kleinen Portionen (Tapas etwa) und sorgen Sie für ein denkwürdiges Finale.
So oder so: Guten Appetit!