Semmelweis-Effekt: Die Tragödie der Ignoranz & Intoleranz

Der Mann, den sie später den „Retter der Mütter“ nannten, wurde sein Leben lang von seinen Kollegen gehasst, gemieden und gemobbt. Am Ende erlitt er darüber einen Nervenzusammenbruch und starb in einer Nervenheilanstalt – einsam und in geistiger Umnachtung. Dabei verdanken Ignaz Philipp Semmelweis bis heute Millionen Menschen und Mütter ihr Leben – ohne es zu wissen. Der Grund dafür: der Semmelweis-Effekt…

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Definition: Was ist der Semmelweis-Effekt

Der Semmelweis-Effekt (auch: Semmelweis-Reflex) beschreibt die reflexhafte Ablehnung in Wissenschaft und Medizin gegenüber revolutionär neuen Erkenntnissen und Entdeckungen. Im Extrem sorgt der Semmelweis-Effekt dafür, dass das wissenschaftliche Establishment die den Normen oder Überzeugungen widersprechenden Forschungsergebnisse ohne weitere Überprüfung sogar vehement bekämpft und die Urheber diffamiert.

Seinen Namen verdankt der Semmelweis-Effekt der traurigen Geschichte von Ignaz Semmelweis, einem ungarisch-österreichischen Chirurgen und Geburtshelfer, der nach seinem Doktor-Abschluss zunächst in Wien arbeitete. Semmelweis war der Arzt, der vor rund 200 Jahren erkannte, dass Hygiene und Desinfektion Leben retten kann.

Das ist seine Geschichte…

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Ignaz Semmelweis: Die Entdeckung der Händedesinfektion

Ignaz Semmelweis war gerade 28 als er 1846 Assistenzarzt in der Geburtsabteilung des Kaiser Josef II. Krankenhauses in Wien wurde. In jener Zeit starben jedes Jahr allein in Wien rund 2000 Frauen am sogenannten Wochenbettfieber (auch: Kindbettfieber) – einer Infektionskrankheit, bei der Keime über die Gebärmutter eindringen und zu einer tödlichen Blutvergiftung (Sepsis) führen.

Die tückische Erkrankung betraf nicht nur die österreichische Hauptstadt. Im 19. Jahrhundert kostete das Kindbettfieber allein in Europa über eine Million Frauen das Leben. Ein Kind zu gebären, war damals mindestens so riskant wie eine Lungenentzündung.

Jede 4. Frau starb bei der Geburt

Als Semmelweis seine Stelle antrat, lag die Sterblichkeit von jungen Müttern auf seiner Station bei rund 18 Prozent, in anderen Kliniken sogar bei 30 Prozent. Das heißt: Mehr als jede vierte Frau starb bei der Geburt ihres Kindes. Aber das galt nicht auf allen Stationen. Auf Semmelweis’ Station, wo zahlreiche weitere Ärzte und Medizinstudenten arbeiteten, starben deutlich mehr Frauen als in der Station nebenan, in der nur Hebammenschülerinnen ausgebildet wurden. Den jungen ungarischen Arzt machte das misstrauisch…

Also untersuchte er die Mütter noch gründlicher als sonst. Keine gute Idee: Nun stieg die Zahl der Todesfälle noch dramatischer an, sodass sich werdende Mütter bald weigerten, hier niederzukommen. Semmelweis war darüber völlig verzweifelt. Es schlief schlecht und machte sich schwere Vorwürfe: Er, der Menschen doch helfen und neues Leben zur Welt bringen wollte, sollte Schuld am Tod von vielen Müttern sein? Ein grotesker Gedanke. Jedoch einer, der ihn nicht mehr ruhen ließ. So vertraute er sich seinem Freund und Kollegen an, dem Gerichtsmediziner Jakob Kolletschka.

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Todesursache: Mangelnde Hygiene

Es schien, als laste ein böser Fluch auf Semmelweis. Während einer Leichensektion wurde Kolletschka von einem seiner Studenten mit dem Skalpell verletzt. Nur ein kleiner Schnitt, doch der reichte: Binnen weniger Tage starb Kolletschka an einer Blutvergiftung. Sein Krankheitsverlauf zeigte jedoch so viele Parallelen zu den Fällen auf der Wöchnerinnenstation, dass Semmelweis hellhörig wurde – und diesmal fand er die Lösung…

Tatsächlich untersuchten die Ärzte und Nachwuchsmediziner seiner Abteilung auch die verstorbenen Mütter. Im ständigen Wechsel behandelten sie werdende Mütter und sezierten Leichen – jedoch ohne sich zwischendurch die Hände zu waschen oder zu desinfizieren.

Heute undenkbar, aber vor rund 200 Jahren war Hygiene im Krankenhaus schlicht unüblich und keiner kam auch nur entfernt auf die Idee, dass dabei Tausende Keime und Bakterien übertragen werden. Die Hebammen-Schülerinnen dagegen führten weder vaginale Untersuchungen durch, noch kamen sie mit Leichen in Berührung. Entsprechend niedrig war bei ihnen die Rate der infizierten Wöchnerinnen.

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Ignaz Semmelweis: Retter der Mütter

Es war die Eingebung seines Lebens, für die Semmelweis nun kräftig Werbung machte. Nach jeder Leichenautopsie wusch er seine Hände und sämtliche medizinischen Instrumente mit einer Lösung aus Chlor und Zitronensäure. Dasselbe ordnete er für seine Studenten an. Prompt sank die Sterblichkeitsrate seiner Station auf drei Prozent. Mehr noch: Zwei Jahre nach seiner Anstellung als Assistenzarzt verringerte sich Zahl der Kindbettfieber-Todesfälle auf insgesamt 1,3 Prozent. Ein sensationeller Tiefststand in ganz Österreich-Ungarn.

Man sollte meinen, dass die anderen Ärzte Semmelweis dafür auf die Schultern klopften oder seinem Beispiel folgen würden. Der Mann rettete wirklich Leben. Nachweislich! Doch es kam anders: Die Kollegen kritisierten ihn, mieden ihn und beschimpften seine Schlussfolgerungen als spekulativen Unfug. Hygiene sei pure Zeitverschwendung, meinten manche.

Semmelweis-Reflex: Schande statt Ruhm

Andere griffen ihn öffentlich an, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass ausgerechnet sie – die Heilsbringer – Verursacher tödlicher Infektionen sein sollten. Von den wenigen Ärzten, die Semmelweis glaubten, brachten sich einige besonders Gewissenhafte sogar um, weil sie mit ihrer schweren Schuld nicht leben wollten. Auch sie erwiesen Semmelweis damit einen Bärendienst.

Am Ende wurde Semmelweis‘ Vertrag im Wiener Krankenhaus nicht verlängert. Das kam einer unehrenhaften Entlassung gleich. So schied der Mediziner im März 1849 unter Schimpf und Schande aus dem Krankenhausdienst aus. Zerknirscht und gedemütigt kehrte der 30-jährige Arzt in seine ungarische Heimat zurück und praktizierte dort eine zeitlang am Krankenhaus in Pest, wo er die Sterblichkeitsrate unter seinen Patienten auf 0,85 Prozent senkte, während sie in Wien wieder auf rund 15 Prozent hochschnellte.

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Semmelweis-Effekt: Arzt der Frauen

Die Geschichte ist eine einzige Tragödie. Zumal Semmelweis zu Lebzeiten nie die Anerkennung erfuhr, die ihm zugestanden hätte. Das eigentlich bemerkenswerte an seinem Forschungsverdienst ist gar nicht mal die Entdeckung der Hygiene in der Medizin. Es ist die unglaubliche Ignoranz und Intoleranz der Ärzte und der Wissenschaft, die – vielleicht auch als späte Reue – heute seinen Namen trägt: den Semmelweis-Effekt.

Unsachgerechtes Händewaschen und desinfizieren bei Ärzten ist bis heute (!) einer der Hauptverursacher von über zwei Millionen jährlichen Infektionen und rund 90.000 Todesfällen allein in den USA. Das Prinzip dahinter lässt sich ebenso auf zahlreiche andere Bereiche übertragen: Immer dann, wenn Innovationen etablierten Verhaltensmustern oder Paradigmen widersprechen; immer dann, wenn die Menschen darauf so reagieren, dass sie den Fortschritt nicht akzeptieren, honorieren und umsetzen, sondern eher noch bekämpfen, weil er ihren Status infrage stellt, dann ist der Semmelweis-Effekt mit im Spiel.

Auch das eine Tragödie – sogar eine aktuelle.


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