Was ist der Zeigarnik-Effekt?
Der Zeigarnik-Effekt bezeichnet das Phänomen in der Psychologie, dass wir uns an unfertige und unterbrochene Aufgaben besser erinnern als an abgeschlossene und erledigte Projekte. Aufgaben, die Sie begonnen haben, aber noch nicht beenden konnten, sind sehr präsent im Gedächtnis – mit der Fertigstellung nimmt dies schnell ab. Grund ist die große Konzentration auf Unfertiges. Dafür entscheidend ist nicht die Unterbrechung oder Verzögerung der Aufgabe, sondern der Status als „erledigt“ oder „unerledigt“.
Für jede Aufgabe bauen wir geistige Spannung auf. Diese innere Spannung schärft kognitive Fähigkeiten und den Fokus auf das Projekt. Sie löst sich erst, wenn die Herausforderung gemeistert ist. Ohne diesen Abschluss bleibt die Spannung bestehen, die Aufgabe beschäftigt uns ständig, spukt weiter im Gedächtnis und kann sogar um den Schlaf bringen (siehe auch: Precrastination).
Ursprung des Zeigarnik-Effekts
Benannt ist der Effekt nach der russischen Psychologin Bljuma Wulfowna Zeigarnik, die der Legende nach in einem Café ein Phänomen beobachtete: Ihr Kellner merkte sich mehrmals große Bestellungen verschiedener Gäste, an die er sich problemlos erinnern konnte – bis er sie alle abgearbeitet und an den jeweiligen Tisch gebracht hatte. Danach wusste er nicht mal, ob er einem Gast Kaffee oder ein Stück Kuchen serviert hatte. Mit Abschluss seiner einzelnen Aufgabe verblasste die Erinnerung schlagartig.
Genauer untersuchte Zeigarnik den Effekt durch ein Experiment an der Berliner Humboldt-Universität. Probanden sollten Aufgaben lösen – einige durften diese vollenden, andere wurde vorher unterbrochen. Es bestätigte sich eindrucksvoll: Unvollendete Dinge blieben bis zu 90 Prozent besser im Gedächtnis. Und zwar unabhängig vom Alter oder dem Bildungsgrad der Teilnehmer.
Zeigarnik-Effekt in der Praxis
Der Zeigarnik-Effekt ist mehr als ein theoretisches Phänomen in der Psychologie. Er wird ganz praktisch genutzt – teilweise um andere zu manipulieren. Ein bekanntes Beispiel sind Cliffhanger in Filmen oder TV-Serien. Werbepausen kommen fast immer an einem spannenden Moment. Eine Serie endet regelmäßig mit einer offenen Frage oder einem ungeklärten Szenario. Es ist derselbe Effekt, den Hollywood nutzt: Sie bleiben dran oder schauen die nächste Folge, weil Sie wissen wollen, wie es weiter geht.
Gedanklich beschäftigen Sie sich weiterhin mit dem, was Sie gerade gesehen haben. Ihr Gehirn sucht einen Endpunkt, um die innere Spannung abbauen und das Thema abschließen zu können. Solange das nicht der Fall ist, warten Sie gespannt auf die Fortsetzung, zappen garantiert nicht weg und gehen für den zweiten Teil ins Kino.
Es ist wie beim Fortschritts- oder Ladebalken am Computer: Ziemlich dämlich, die ganze Zeit gebannt auf einen animierten Balken zu starren und zuzusehen, wie der allmählich auf 100 Prozent anschwillt. In der Zeit ließe sich wahrlich Besseres erledigen. Dennoch glotzt jeder drauf, weil es Spannung erzeugt: „57 Prozent … 73 Prozent … Wow, schon 80 Prozent!“ Obwohl wir hier genau wissen, wie es weitergeht, können wir uns trotzdem kaum mit etwas anderem beschäftigen.
Zeigarnik-Effekt in der Liebe
In der Liebe und bei Beziehungen zeigt sich der Zeigarnik-Effekt ebenfalls. Die Gefahr: Werden Streitigkeiten nicht beigelegt und für beide Seiten tatsächlich beendet, droht langfristig im schlimmsten Fall die Trennung. Der Grund: Nicht abgeschlossener Streit bleibt gedanklich präsent. Betroffene schließen nicht damit ab, denken noch lange über das Negative nach und werden zunehmend unglücklich in der Beziehung – bis die Liebe endet.
Tipps: So nutzen Sie den Zeigarnik-Effekt
Die gute Nachricht für Sie: Da Sie den Zeigarnik-Effekt jetzt kennen, können Sie ihn gezielt für sich nutzen. Im Job können Sie so Ihre Produktivität spürbar steigern. Diese Tipps helfen Ihnen dabei:
- Unterbrechen Sie Aufgaben an der richtigen Stelle
Können Sie eine Aufgabe oder ein Projekt nicht fertigstellen, sollten Sie den richtigen Zeitpunkt für eine Unterbrechung wählen. Der perfekte Moment ist gekommen, wenn Sie genau wissen, wie Sie weitermachen wollen und es direkt könnten – aber trotzdem eine Pause einlegen. So nutzen Sie den Zeigarnik-Effekt und erinnern sich genau an Ihre Aufgabe. Gleichzeitig finden Sie leicht wieder einen Einstieg und machen schneller weiter – der sogenannte Hemmingway-Effekt. - Schreiben Sie To-Do-Listen
Durch diesen Trick manipulieren Sie sich selbst: Durch To-Do-Listen erzeugen Sie die innere Spannung für die bisher unerledigten Aufgaben. Sie wissen, was zu tun ist und woran Sie bei den einzelnen Punkten denken müssen. - Beenden Sie fertige Aufgaben endgültig
Schließen Sie eine Aufgabe ab, dann machen Sie es endgültig. Lassen Sie keine kleinen Aufgaben übrig und beenden Sie auch nicht mit einem „Das schaue ich mir in ein paar Tagen noch einmal an…“ Gedanklich werden Sie weiterhin an diesem Projekt festhängen und weniger Konzentration und kognitive Kapazitäten für andere Dinge haben.
Vorsicht vor zu vielen offenen Aufgaben
Der letzte Tipp zeigt bereits den größten Nachteil des Zeigarnik-Effekts: Zu viele offene Aufgaben verbrauchen Ihre gesamte Energie. Sie sind gedanklich so sehr mit den noch laufenden Projekten beschäftigt, dass Sie gar nicht an aktuelle Aufgaben oder neue Dinge denken können. Es staut sich immer weiter auf, bis Sie ihre Listen gar nicht mehr abarbeiten können. Wichtig ist deshalb ein gesundes Mittelmaß. Eine Balance zwischen motivierendem Cliffhanger und unüberwindbarer Klippe.
Sonst drohen drohen Stress, fehlende Erholung sowie dauerhafter Fokus auf Aufgaben, Schwierigkeiten und Herausforderungen. Da Sie unfertige Projekte so gut und leicht erinnern, denken Sie ständig daran. Nicht nur während der Arbeitszeit, sondern im Feierabend, am Wochenende oder abends, wenn Sie eigentlich schlafen wollen. In einigen Fällen mit ernsten Konsequenzen:
- Kopfschmerzen
- Innere Unruhe
- Schlaflosigkeit
- Antriebslosigkeit
- Stressbedingte Krankheiten (Herz-Kreislauf)
- Psychische Erkrankungen (Burnout, Depression)
Kritik am Zeigarnik-Effekt
Der Zeigarnik-Effekt wird wissenschaftlich immer wieder diskutiert und kritisiert. Hauptgrund: In anderen Studien konnte das Phänomen oftmals nicht rekonstruiert werden. Die Ergebnisse wichen von der Annahme ab oder waren sogar komplett widersprüchlich. Die Zuverlässigkeit und Wirksamkeit des Effekts ist deshalb wissenschaftlich nicht endgültig geklärt – genaue Erklärungen gibt es aufgrund unterschiedlicher Versuchsabläufe und damit verbundenen Aufgaben noch nicht.
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