Tugend oder Pedanterie: Ist Pünktlichkeit ein Wert?
Entschuldigt wird das gerne damit, dass der Deutsche ein schrecklicher Pedant sei. Kein anderer im globalen Dorf nehme es mit der Zeit so genau wie die teutonische Bürokratenseele. In Lateinamerika zum Beispiel sei immer noch pünktlich, wer zu einer Verabredung eine Stunde später erscheine – more or less. Mag sein. Aber Lateinamerika ist weit weg und hierzulande treibt das Versäumnis die Leute in den Wahnsinn. Sich mal verspäten – die begründete Ausnahme – das lässt sich noch entschuldigen. Aber wiederholt oder gar chronisch? Frechheit!
So denken die Menschen nicht einmal nur hierzulande: Eine Umfrage des Personaldienstleisters Randstad hat etwa in den USA ermittelt, dass 54 der Arbeitnehmer vor Wut kochen, wenn sich die Leute notorisch verspäten. Getoppt wird das nur noch durch das Ärgernis Klatsch und Tratsch (60 Prozent).
Was sagt Pünktlichkeit aus?
Pünktlich zu sein, heißt, einen verabredeten Zeitpunkt oder einen Termin präzise einzuhalten. Hier und da gibt es allerdings gewisse Toleranzgrenzen. In Hochschulkreisen spricht man gerne mal vom „akademischen Viertel“. Gemeint ist dann, dass eine Viertelstunde zu spät oder eher zu erscheinen, noch toleriert wird – ohne gleich unverbindlich zu wirken.
Laut diversen Umfragen hält die Mehrheit der Deutschen eine Verspätung von 5 Minuten für akzeptabel. Das akademische Viertel halten immerhin noch 11 Prozent für vertretbar. Einig sind sind jedoch nahezu 98 Prozent: Bei privaten Verabredungen sind 15 Minuten die maximale Wartezeit.
Umgekehrt kann es aber auch grob unhöflich sein, zu pünktlich zu erscheinen beziehungsweise zu früh. Wenn Sie so Ihren Gastgeber oder den Veranstalter überraschen, während der noch mitten in den Vorbereitungen steckt, bringt den das mächtig in die Bredouille. Merke: Auch wer mehr als 10 Minuten zu früh erscheint, ist unpünktlich!
Warum sind Menschen nicht pünktlich?
Warum aber erscheinen manche Menschen sogar chronisch zu spät? Auch das wurde inzwischen wissenschaftlich untersucht – Ergebnis:
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Falsche Selbsteinschätzung
Das Gros der chronischen Zuspätkommer unterschätzt den tatsächlichen Zeitaufwand für eine Anreise oder Aufgabe und überschätzt die eigenen Fähigkeiten. Immerhin: Im Durchschnitt unterschätzen alle den tatsächlichen Zeitbedarf einer Aufgabe um 40 Prozent – was regelmäßig für Panik vor der Deadline sorgt.
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Anderes Zeitgefühl
Der zweithäufigste Grund: Die chronisch Unpünktlichen haben ein anderes Gefühl für Zeit. Jeffrey M. Conte von der San Diego State Universität entdeckte einen bestimmten Persönlichkeitstyp unter den Zuspätkommern. Die Betroffenen hatten buchstäblich ein anderes Gefühl dafür, wie die Zeit vergeht. Konkret: Während für Typ A (zielorientiert, pünktlich) eine Minute gefühlt schon nach 58 Sekunden vorbei war, verstrich sie für Typ B (entspannt, unpünktlich) erst nach 77 Sekunden. Klar, dass sich dieses andere Zeitgefühl aufschaukeln und zu gewaltigen Verspätungen führen kann.
Die Gründe, warum sich manche verspäten, können allerdings noch mehr variieren:
- Bei dem Einen ist es schlicht Überheblichkeit.
- Bei dem Anderen ist es pures Desinteresse. Der Betreffende hält die Verabredung, den Termin für unwichtig oder seine Anwesenheit dafür.
- Beim Chaoten wiederum mangelndes Zeitmanagement oder eine konstante Fehleinschätzung: Seit 20 Jahren fährt er denselben Weg zur Arbeit, früher brauchte er dafür eine halbe Stunde. Dass die Verkehrsdichte seitdem drastisch gestiegen ist, auf der Strecke seit kurzem eine Baustelle liegt, sieht er nicht und plant es auch nicht ein. Seine Entschuldigung: der Stau! Eine wirkliche Entschuldigung ist das nicht, allenfalls eine Erklärung.
Der schon erwähnte Jeffrey M. Conte kommt allerdings auch zu dem Ergebnis, dass es oft auch Zerstreuung und Multitasking sind, die dazu führen, dass sich Menschen regelmäßig verspäten. Oder wie es eine Studie der Universität von Utah so schön auf den Punkt bringt: Jene, die meinen besonders gut multitasken zu können, sind am schlechtesten darin.
Warum sollte man immer pünktlich sein?
Um es allerdings klar zu sagen: Wiederholte Unpünktlichkeit ist kein Schicksal, sondern unverschämt, eine subtile Form von Arroganz. Denn eine Wiederholung lässt sich entweder gewollt vermeiden – oder ist eine Entscheidung. Die unverschämte Aussage hinter Letzterem: „Anderes ist mir wichtiger. Und ich bin so wichtig, dass ich euch warten lassen kann. Ich muss mein Verhalten nicht euch anpassen, sondern umgekehrt.“
So wird die Bummelei am Ende auch noch zur Macht- und Dominanzstrategie, wenn man durch sein spätes Erscheinen dokumentiert, dass Meetings ohne einen nicht starten können. Oder indem man nonverbal ausdrückt: „Sieh her, ich kann’s mir leisten, dich einzufliegen, dich zu bezahlen – und trotzdem warten zu lassen!“
Andere Menschen warten zu lassen, ist nichts weiter als pure Machtdemonstration und Vergeudung von Lebens- und Arbeitszeit. Ein Chef, der seine Mitarbeiter untätig warten lässt, um seinen Status zu demonstrieren und sich mächtig und bedeutend zu fühlen, handelt töricht. Denn er bezahlt diese Lohnminuten schließlich auch. Ein teurer und unwirtschaftlicher Luxus! Und erst recht kein gutes Vorbild. Es ist leicht auszurechnen, wie wirtschaftlich der Betrieb noch arbeitet, wie produktiv Meetings sind, wenn das Beispiel erst einmal auf allen Hierarchieebenen Schule macht…
Pünktlichkeit lernen: 3 Tipps
Ebenso wie Unpünktlichkeit nur eine (zugegebenermaßen lästige) Marotte ist, lässt sich Pünktlichkeit lernen. Drei Tipps dazu:
- Problem erkennen
Wer bei sich selbst Unpünktlichkeit als negative Eigenschaft erkennt, kann den Wunsch zur Besserung entwickeln. Reflektieren Sie kritisch: In welchen Situationen sind Sie unpünktlich und warum? Manche Menschen empfinden Terminvorgaben als Eingriff in ihre Selbstbestimmung. Verdeutlichen Sie sich die Konsequenzen notorischen Zuspätkommens und wägen Sie ab, ob sie es wert sind. - Strategie entwickeln
Vielleicht messen Sie im Alltag mal ganz pingelig die Zeit. So können Sie genau überprüfen, wie lange Sie für welche Aufgaben benötigen. Wer feststellt, dass bestimmte Abläufe mehr Zeit als erwartet in Anspruch nehmen, kann beispielsweise zehn oder 15 Minuten mehr einplanen. Sinnvoll ist auch, mit einem Tagesplan zu arbeiten und bestimmte (wichtige) Aufgaben einzutragen. - Ablenkungen vermeiden
Halten Sie sich exakt an Ihren Tagesplan und lassen Sie sich von Ihren Vorhaben nicht ablenken. Wer auf typische Zeitkiller hereinfällt – „mal eben im Netz surfen“ oder Ähnliches – verliert schnell wieder Zeit.
Was tun, wenn Sie nicht pünktlich sind?
Sicher, Pannen passieren – trotz aller Planung. Dafür kann und muss man sich entschuldigen, Besserung geloben und diese auch beweisen. Spätestens beim nächsten Mal. Falls Sie also merken, dass Sie sich (wieder einmal) verspäten – zum Beispiel, weil die Bahn oder der Flieger Verspätung haben -, dann rufen Sie die wartende Person an und geben Sie Bescheid, dass und wie lange sie sich voraussichtlich verspäten werden.
Bitte niemals dabei flunkern. Die meisten Ausreden sind durchschaubar und machen die Unannehmlichkeit nur noch schlimmer. Bleiben Sie also bitte stets ehrlich. Im Zweifel hilft auch eine gute Portion Selbstironie: „Ich würde Ihnen jetzt gerne eine irre Heldengeschichte von fliegenden Elefanten und meinen Rettungsversuchen erzählen. Doch die Wahrheit ist: Ich habe verschlafen. Tut mir leid, aber ich werde deshalb nicht pünktlich erscheinen können…“
Pünktlichkeit ist ein Gebot der Höflichkeit
Dann gibt es freilich noch die Fraktion der Gestressten. Mangelnde Pünktlichkeit ist ihr Mittel, um Beschäftigung, Fleiß und Unentbehrlichkeit vorzutäuschen, Motto: „Termine, Termine, Termine…“ Oder eben Drama, Drama, Drama. Nur ist die Masche meist mehr als durchsichtig. Und wirklich bedeutsam macht sie einen auch nicht. Denn wer immer spät dran ist, wirkt unkoordiniert statt souverän. Der Unpünktliche steht mit dem Überheblichen und dem Unzuverlässigen auf Augenhöhe.
Kurz: Unpünktlichkeit ist unhöflich, unökonomisch und ein veritabler Karrierekiller. Schließlich basiert Pünktlichkeit (so sie denn messbar ist), aber einer gegenseitigen Verabredung; einem Versprechen, sich zu einem bestimmten Termin zu treffen, der zuvor von beiden Seiten akzeptiert und zugesagt wurde. Diese Zusage einseitig und stillschweigend zu brechen, ist ein Akt der Selbsterhöhung – und Vertrauensbruch. Einmal – kann vorkommen. Als Masche ist es maßlos. Mögen andere Nationen toleranter sein – sie schätzen am Germanen aber exakt auch die teutonische Tugend seiner Zuverlässigkeit.
Was bedeuten s.t. und c.t. bei Einladungen?
Vielleicht haben Sie die folgenden Kürzel schon einmal auf Einladungen gefunden. Das bedeuten die Zeitangaben genau:
- s.t. hinter der Zeitangabe steht für „sine tempore“, was wortwörtlich übersetzt „ohne Zeit“ bedeutet. Man konnte es auch mit Nulltoleranz übersetzen. Wer dieses Kürzel auf seiner Einladung findet, sollte unbedingt zu exakt der genannten Uhrzeit erscheinen und meist auch schon seinen Platz am Tisch eingenommen haben.
- c.t. hinter der Zeitangabe hingegen steht für „cum tempore“ und bedeutet „mit Zeit“. Es entspricht in etwa der Formulierung: „Wir rechnen mit Ihrem Erscheinen um 19 Uhr.“ In diesem Fall müssen Sie also nicht wirklich pünktlich sein und dürfen sich um bis zu eine Viertelstunde verspäten.
Beginnt die Party laut Einladung gar erst „ab“ 20 Uhr, können Sie auch noch um 21 Uhr oder später erscheinen und sind immer noch pünktlich. Irgendwie.
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