Holokratie Definition: Organisationskonzept
Holokratie – seltener: „Holakratie“ – das klingt doch bereits nach einem wissenschaftlichen Terminus. Und richtig, der Begriff stammt eigentlich aus dem Griechischen von „holos“ für ganz, vollständig und „-kratie“ für Herrschaft. Dahinter steckt ein Konzept, anhand dessen möglichst transparent alle Mitarbeiter eines Unternehmens eingebunden und beteiligt werden sollen. Erfunden hat es der amerikanische Unternehmer Brian Robertson, weshalb statt von Holokratie auch häufig von englisch „holacracy“ (Achtung, englische Schreibweise mit „a“) die Rede ist.
Robertson, Gründer von Ternary Software, wandte das Organisationsprinzip 2007 erstmalig in seinem Unternehmen an. Er entwickelte es kontinuierlich weiter, bis er 2010 die holacracy constituion (deutsch: „Holokratie-Verfassung“), also ein Regelwerk herausbrachte, in dem er die Prinzipien und Beispiele darlegt, die seinem Konzept zugrunde liegen. Beeinflusst ist sein Konzept von agilen Softwaremethoden wie Scrum und Kanban, mit denen er bereits sein Unternehmen führte. Als dies im Zuge einer wirtschaftlichen Krise pleite ging, entwickelte er mit Holacracy One sein Konzept weiter.
Holokratie: Führung für alle
Was ist „holacracy“? Alte Führungsstile, die starr hierarchischem Denken verhaftet sind, haben wenig mit modernen Unternehmen gemein, die flexibel auf Anforderungen des heutigen Marktes reagieren müssen. Oder anders gesagt: Eine Organisationsstruktur, in der Hierarchien um jeden Preis eingehalten werden müssen und Entscheidungen nur von oben nach unten gefällt werden, genügt vielen modernen Unternehmen nicht. Holokratie ermöglicht ein dynamisches Reagieren, indem es auf folgende Prinzipien setzt:
- Selbstorganisation
- Ideen aus der Kybernetik
- agile Methoden
- kollektive Intelligenz
Holokratie kehrt sich von traditionellen Führungsstilen ab und verteilt die Verantwortung auf die Mitarbeiter: Jeder wird ermutigt, Entscheidungen zu treffen und wird somit gewissermaßen zum Unternehmer. Es entsteht Transparenz. Was zunächst nach Chaos klingt, folgt allerdings bestimmten Regeln.
Mitarbeiter sind nicht mehr klassischerweise gemäß Führungsrolle, Funktionen und Abteilungen zuständig, sondern nehmen verschiedene Rollen ein. Organisiert werden sie in Kreisen, deren Zuständigkeiten klar geregelt sind. Die Kreise sind wiederum hierarchisch angeordnet und Bestandteil eines anderen Kreises. Wird ein Kreis irgendwann zu groß, kann er auch in Unterkreise gegliedert werden.
Aus jedem Kreis wird ein Vertreter in den nächsthöheren und einer in die unteren Kreise gewählt, ein Mitarbeiter kann somit auch mehreren Kreisen angehören. Sämtliche Mitarbeiter eines Kreises sind bei allen Entscheidungen eingebunden und stimmberechtigt. Diese doppelte Verlinkung (double linking) verhindert, dass ohne Wissen der anderen aneinander vorbei gearbeitet wird. Der Gedanke hinter diesem von der Soziokratie beeinflussten System ist, dass durch die dezentrale Organisationsstruktur die Mitarbeiter selbst Einfluss nehmen können.
Die 4 Säulen der Holokratie
Im Rahmen der Organisationstheorie rund um die Holokratie wird gerne auch auf die sogenannte „Holacracy Constitution“ verwiesen. Die besteht im Wesentlichen aus vier Leitlinien, die auch als die 4 Säulen der Holokratie bekannt sind, ohne die das Organisationsmodell nicht funktionieren kann:
- Doppelte Verbindung (double-linking)
Damit die Kommunikation zwischen den verschieden Kreisen funktioniert, benötigt jeder Kreis einen (oder mehrere) Vertreter, der den nötigen Austausch der Kreise untereinander gewährleistet. Die Vertreter geben also aktuelle Informationen aus ihrem Kreis weiter und vertreten dessen Interessen im Nachbar-Kreis. So werden alle Stimmen gehört und sind – theoretisch – gleichberechtigt. - Trennung von operativen und Steuerungstreffen
Um das operative Tagesgeschäft ohne Reibungsverluste zu managen, werden Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse genau abgesteckt und von einander getrennt. Die Kreise steuern und organisieren sich und ihre Tagesaufgaben zunächst autark; in den übergeordneten Steuerungstreffen wird hingegen bewusst nicht über Ressourcenfragen (Geld, Zeit, Personal) gesprochen, sodass Ideen und Strategien nicht schon fürhzeitig durch die Argumente „zu wenig Zeit, kein Geld, kein Personal“ abgewürgt werden. - Rollenverteilung
Weil Konflikte meist da entstehen, wo Zuständigkeiten ungeklärt sind, benötigt das Holocracy-Modell eine klare Rollenverteilung – jedoch jenseits von traditionellen Organigrammen und Ämterhierarchien. Daher werden bestehende Zuständigkeiten und Rollen in den Steuerungstreffen regelmäßig gemeinsam präzisiert oder neue definiert, sodass alle für den Betrieb notwendigen Handlungen erfasst sind. Missverständnisse und Zuständigkeitsstreitereien werden so minimiert. - Dynamische Steuerung
Wichtige Steuerungsentscheidungen werden in den jeweiligen Kreisen per sogenannter integrativer Entscheidungsfindung getroffen. Das bedeutet: Es werden die Stimmen aller Beteiligten einbezogen, und es wird keine perfekte, sondern vor allem brauchbare und korrigierbare Lösung gesucht. Diese muss sich in der Praxis erst noch bewähren und ist daher jederzeit änderbar. Es kann also jeder und jederzeit einen neuen (besseren) Vorschlag einbringen.
Holokratie: Veränderte Ansprüche an Arbeit
Manche Jobbeschreibungen und Tätigkeitsfelder sind für seinen Inhaber wenig inspirierend oder herausfordernd, passen nicht mehr zu seiner Entwicklung. Ein holokratisch organisiertes Team hingegen bedeutet, dass ein Mitarbeiter viel häufiger seine Rollen wechselt beziehungsweise seinen Arbeitsbereich deutlich erweitert. Dadurch, dass auch abseits der Kreise Mitarbeiter verschiedene Rollen einnehmen können, bleibt das Unternehmen dynamisch und kann leichter auf Änderungen reagieren.
Ziel von Holokratie ist es, dass Leute Rollen einnehmen, weil sie dafür geeignet sind. So wird nebenbei die Mitarbeitermotivation gefördert, die ihrerseits zu mehr Innovation beiträgt.
Meetingkultur in der Holokratie
Obwohl die Effektivität von Meetings oftmals infrage gestellt wird, kommt die Holokratie nicht ohne aus, mehr noch: Sie sind ein wichtiger Bestandteil. Allerdings folgen die Meetings klaren Regeln, die für Effektivität sorgen. Die Treffen erfolgen in drei Formaten:
- Operative Meetings: Hier steht geht es um alltägliche Aufgaben und die Frage, wie die Effizienz bestimmter Projekte gesteigert werden kann.
- Strategische Meetings: Hier werden die wichtigsten Fragestellungen diskutiert.
- Steuerungsmeetings: Sie dienen der Weiterentwicklung der Strukturen – etwa, ob Kreise vielleicht zusammengelegt werden könnten oder neue entwickelt werden müssen.
Da es keine klassischen Führungsrollen mehr gibt, stoßen die Teammitglieder aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit Problemen selbst neue Entwicklungen an. Entscheidungen werden nach Konsent getroffen, das bedeutet, dass relevante Argumente ausgetauscht werden und ein Beschluss gefasst wird, wenn keine triftigen Einwände vorliegen.
Die Struktur der Meetings und Rollen bedingt außerdem einen sachlichen Austausch, bei dem persönliche Animositäten nach Möglichkeit ausgeschlossen werden. Vergleichbar ist das wie in einem Mannschaftsspiel: Man mag vielleicht den einen oder anderen Mannschaftskollegen nicht besonders sympathisch finden, aber in seiner jeweiligen Rolle spielt man ihm den Ball zu, wenn man sieht, dass dieser an geeigneter Position steht.
Robertson selbst sieht Holokratie als evolutionäre Entwicklung herkömmlicher Organisationskonzepte und vergleicht es mit einem Körper: Wie in einem Körper interagieren alle Organe miteinander und trotzdem ist jedes Organ für sich mit eigenen Funktionen betraut.
Holokratie Kritik: Bringt geeignet
Obwohl Robertson mit seiner Firma Holacracy One anderen Unternehmen erfolgreich beibringt, wie sie Holokratie auch bei sich einführen können, ist das Konzept an sich noch nicht sehr verbreitet. In Deutschland sind es bisher vor allem:
- Blinkist, ein Start-up, das sich auf die Zusammenfassung von Sachbuchtexten spezialisiert hat,
- Soulbottles, ein Berliner Öko-Start-up, das sich an Holokratie und gewaltfreier Kommunikation orientiert,
- Deutsche Bahn, die in ausgewählten Bereichen mit Holokratie experimentiert,
- ESBZ, eine Reformschule in Berlin, die sogar auf die Schulleitung verzichtet und
- einige mittelständische Unternehmen.
Den durchschlagendsten Erfolg gab es bisher in Amerika bei Zappos, einem zu Amazon gehörenden Online Shop. Er ist mit seinen 1.500 Mitarbeitern das erste privatwirtschaftliche Unternehmen mit Rang und Namen, das die Holokratie nach einer Testphase mit anschließender Befragung der Mitarbeiter im Mai 2015 einführte.
Auffällig ist, dass es ansonsten (vor allem in Amerika) in erster Linie NGOs sind, die das Holokratiekonzept einführen. Und da liegt auch nach Meinung einiger Experten der Knackpunkt: Holokratie eignet sich vor allem für kleinere Unternehmen, wie es eben Start-ups oder NGOs sind, weniger für große Konzerne.
Der Grund dafür könnte tatsächlich in der Führung beziehungsweise Nicht-Führung liegen: Abhängig von einzelnen Mitarbeitern, aber eben auch von der Größe des Unternehmens besteht möglicherweise ein dezidierter Wunsch nach Führung und Führungsverantwortung eines Vorgesetzten: Nicht jeder ist ein Anhänger von gewaltfreier Kommunikation, nicht jeder kann mit soviel Freiheit und Entscheidungsspielraum umgehen. Praxisbeobachtungen berichten von Erfahrungen in Unternehmen, in denen Verantwortlichkeiten nicht klar waren und dementsprechend das Konzept nicht funktionierte.
Außerdem setzt Holokratie darauf, dass alle Beteiligten ihre Rollen einnehmen: passiert das nicht, ist Scheitern ebenfalls vorprogrammiert. Das kann – vor allem bei Unternehmen, die lange einen anderen Führungsstil verfolgt haben – zum Verlust von Mitarbeitern und Führungskräften führen.
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