Barmherziger Samariter: Beurteilen wir andere zu schnell?

Das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lukas 10 ist ein Klassiker und wichtiger Appell zur aktiven Nächstenliebe. Helfen statt hinsehen. Gleichzeitig verurteilt die Geschichte all jene, die untätig bleiben – ohne jedoch die Motive zu kennen. Psychologen sagen: Das Urteil ist vorschnell – und daher oft falsch…

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Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört zu den bekanntesten Erzählungen von Jesus Christus im Neuen Testament. Die Geschichte aus Lukas 10, 25-37 – kompakt erzählt:

Ein Mann wandert von Jerusalem nach Jericho, wird überfallen und liegt verwundet am Straßenrand. Zwei Männer kommen nacheinander vorbei, ein Priester und ein Levit, beide sehen ihn, gehen aber weiter. Dann erscheint ein Dritter, ein Samariter. Er hat schließlich Erbarmen mit dem Überfallenen, salbt seine Wunden, verbindet sie, bringt ihn in eine Herberge, pflegt ihn einen Tag lang und gibt dem Herbergsvater sogar noch Geld, damit der das Opfer weiterpflegt. Dann reist er weiter.

Die Moral des Gleichnisses ist so offensichtlich, dass man sie kaum nennen muss: Die beiden ersten Männer – eigentlich besonders fromm – outen sich als „scheinheilig“ und „herzlos“. Ausgerechnet ein Samariter – in den Augen der Juden „Heiden“ – zeigt Herz und Hilfsbereitschaft. Im biblischen Gleichnis ist das beabsichtigt.

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Warum wir Menschen oft falsch beurteilen

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist unter ethischen Gesichtspunkten völlig richtig: Verletzten zu helfen, ist oberste Menschenpflicht. Unterlassene Hilfeleistung im Angesicht offensichtlicher Not ist und bleibt eine moralisch verwerfliche Unbarmherzigkeit.

Trotzdem sagen Psychologen heute: „Wer nicht hilft, könnte auch in großer Eile sein.“ Wir beurteilen manche Menschen womöglich viel zu schnell, sind voreingenommen und liegen daher eher falsch.

Der barmherzige Samariter – nachgestellt

Die beiden Psychologen John Darley und Daniel Batson haben das Gleichnis vom barmherzigen Samariter mit 40 Theologie-Studenten der Princeton Universität in einer moderneren Konstellation nachgestellt: Angeblich wurden die Probanden zu einer Theologie-Befragung eingeladen und sprachen dabei sogar „zufällig“ über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Danach sollten die Teilnehmer einen kurzen Fragebogen ausfüllen und diesen in ein anderes Büro auf dem Campus bringen. Nun folgte der eigentliche Test. Diesmal wurden die Probanden in drei Gruppen eingeteilt:

  • Den Ersten erzählte man: „Oh, Sie sind schon spät dran! Sie hätten den Fragebogen schon vor 5 Minuten abgeben sollen. Am besten Sie beeilen sich jetzt…“
  • Den Zweiten sagten die Forscher: „Der Assistent wartet schon auf Sie – am besten, Sie gehen sofort in das Büro dort…“
  • Den Dritten wurde gesagt: „Wir sind schneller fertig als erwartet. Dennoch können Sie sich ja schon einmal auf den Weg zum Büro dort machen…“

Sie merken schon: Alle Studenten wurden unter Zeitdruck gesetzt, jedoch mit unterschiedlichen Nuancen. Der Weg zu dem besagten Büro war jedoch präpariert: Dort lag ein Mann auf dem Flur, lädiert, hustend, schnaubend, die Augen bereits geschlossen. Offensichtlich jemand, der Hilfe benötigt. Was passierte?

Zeitdruck reduziert Hilfsbereitschaft

Von den Studenten hielten nur 40 Prozent an, um sich nach dem Zustand des Mannes zu erkunden und ob dieser Hilfe benötigt. Einige stiegen sogar über den Mann hinweg und ärgerten sich laut, dass er ihnen den Weg versperrte. Wie erwartet, hatte der aufgebaute Zeitdruck enormen Einfluss auf die Hilfsbereitschaft:

  • Von den bereits Verspäteten halfen gerade mal 10 Prozent.
  • Bei den Medium-Eiligen waren es schon 45 Prozent.
  • Von den Überpünktlichen dagegen halfen ganze 63 Prozent.

Auch das Geplänkel zuvor hatte Einfluss auf das schlechte Gewissen der Studenten: Von jenen, die das Gleichnis vom barmherzigen Samariter noch gut im Kopf hatten, halfen immerhin ganze 53 Prozent. Was umgekehrt jedoch bedeutet, dass knapp jeder Zweite trotzdem den Mann tatenlos liegenließ.

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Beurteilen wir andere zu schnell?

Das alles soll natürlich eine unterlassene Hilfeleistung nicht rechtfertigen. Keine noch so große Eile entschuldigt, einem anderen Menschen nicht zu helfen! Aber das ist eine ethische Frage, keine wissenschaftliche. Die Wissenschaft lehrt uns hierbei etwas anderes:

  • Die Umstände üben massiven Einfluss auf unser Verhalten aus. Daher wäre es verkehrt, Menschen aufgrund eines einmaligen verwerflichen Verhaltens abschließend zu beurteilen.
  • Es ist gut, ab und an die Geschichte vom barmherzigen Samariter zu lesen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir hilfsbereiter werden, immerhin auf 53 Prozent.

Eine denkwürdige Geschichte über vorschnelle Urteile

In dem Kontext gibt es noch eine weitere Parabel, die uns vor gefährlichen Vorurteilen oder Stereotypen warnt:

Eine Mutter fährt mit ihrem Sohn in der U-Bahn. Der aber läuft völlig verstört durch die Bahn. Er wirkt hyperaktiv, ist aggressiv, belästigt Mitreisende, pöbelt sie an. Die Menschen reagieren immer genervter und gereizter, schütteln den Kopf, rollen die Augen und fangen an zu maulen.

Irgendwann fasst sich ein Mann ein Herz und spricht die Mutter an: „Warum lassen Sie zu, dass sich ihr Kind so daneben benimmt? Sehen Sie nicht, dass sie andere damit stören!“ Da antwortet die Mutter: „Es tut mir Leid. Aber wir kommen aus dem Krankenhaus, in dem gerade der Vater meines Jungen an den Folgen eines Unfalls gestorben ist. Ich weiß leider überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll, und ich fürchte, mein Sohn weiß es auch nicht.“

Ein Satz – eine völlig andere Welt

Eben noch dachten vermutlich auch Sie, es geht in dieser Geschichte um Disziplin, gutes Benehmen oder Kinderstube. Vielleicht haben Sie sich sogar über die rücksichtslose Mutter und ihre Laissez-Faire-Erziehung geärgert…

Doch mit der Erklärung erscheint alles in einem anderen Licht. Sie betrachten die Situation und die Mutter aus einer anderen Perspektive. Und damit wechselt auch das Urteil. Wir sehen eben immer nur Ausschnitte – und sollten uns davor hüten, daraus gleich eine ganze Wahrheit zu machen.


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