Paradoxon der Macht: Sympathie macht mächtig – Macht macht unsympathisch
Vor ein paar Jahren begann Dacher Keltner, ein Psychologie-Professor an der Universität von Kalifornien in Berkeley damit, Erstsemester auf seinem Campus zu interviewen. Er gab ihnen zuerst eine Gratispizza aus, dann einen Fragebogen dazu, um herauszufinden, welche ersten Eindrücke sie von ihren Mitstudenten hatten.
Am Ende des Semesters lud Keltner seine Probanden erneut zu frischen Pizzen und demselben Fragenbogen ein. Dabei zeigte sich: Jene Studenten, die inzwischen am oberen Ende der sozialen Hierarchie standen, also besonders mächtig und respektiert waren, waren zugleich auch jene, die beim ersten Experiment als besonders beliebt und extrovertiert galten.
Oder mit anderen Worten: Die nettesten Kommilitonen führten die Rangliste an.
Das Ergebnis ist übrigens keinesfalls singulär für Berkeley. Vergleichbare Studien – etwa in der Army – kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Das sei auch durchaus normal: „Menschen verleihen all jenen Autorität, die sie besonders gut leiden können“, sagt Keltner.
Macht steigert analytisches Denken
Macht schult den Geist. Wie der Psychologie-Professor Yuri Miyamoto an der Universität von Wisconsin–Madison und sein Kollege Li-Jun Ji von der Queen’s Universität in Kingston, Kanada, herausgefunden haben, hat Macht noch einen anderen unmittelbaren Effekt – und zwar auf unser Gehirn: Wer sich mächtig fühlt (oder es ist), verbessert automatisch seine Fähigkeit, analytisch zu denken. Oder anders gesagt: Die Macht, sie steigt uns sprichwörtlich zu Kopfe.
Mit zunehmender Macht verschwindet die Moral
Doch nun passiert das eigentlich Bemerkenswerte: All die Fähigkeiten, die diese natürlichen Führungspersönlichkeiten zu ihrer herausgehobenen Position ermächtigt hatten, schienen mit der Machtergreifung zusehends zu verschwinden: Statt ehrlich, höflich oder offen zu sein, werden diese Menschen plötzlich impulsiv, rücksichtslos und brutal. In extremen Fällen verfolgen die Betroffenen sogar nur noch eigene Interesse – ohne Rücksicht auf die Interessen der Unternehmen, die sie führen, oder ihre eigene Reputation.
Der Absturz des ehemaligen Hewlett-Packard-Chefs Mark Hurd ist so ein Beispiel: Als Konzern-CEO verdiente er rund 82.000 Dollar – täglich! Seinen Ruf, seine Karriere aber riskierte der Familienvater und Vorgesetzte von 300.000 Mitarbeitern für gefälschte Spesenabrechnungen im Gesamtwert von vergleichsweise läppischen 20.000 Dollar, nicht mal dem Viertel seines Tageslohns.
Der Fall ging durch die Presse – aber eine Frage blieb stets offen: Warum – warum macht der das, obwohl er es gar nicht nötig hat?
Die eine Erklärung der Psychologen geht so: Autorität vermindert Empathie.
Menschen mit Macht neigen dazu, über ihre Mitmenschen stärker in Stereotypen und sprichwörtlichen Schubladen zu urteilen als wirklich mitfühlend zu sein. Zudem verbringen sie weniger Zeit damit, Blickkontakt zu anderen zu halten – erst recht, wenn diese weniger mächtig sind als sie selbst.
Dazu gibt es ein amüsantes Experiment (wenngleich es einen ersten Hintergrund hat) von Adam Galinsky, einem Psychologen und Professor für Ethik und Entscheidungen im Management an der Kellogg School of Management der Northwestern Universität in Evanston…
Galinsky und seine Kollegen unterteilten dazu ihre Probanden zunächst in zwei Gruppen und suggerierten der einen besonders mächtig zu sein, der anderen das genaue Gegenteil. Anschließend baten sie ihre Teilnehmer sich den Buchstaben E auf die Stirn zu malen.
Nichts besonderes, sollte man meinen. Interessant daran aber war:
- Wer sich mächtig fühlte, malte den Buchstaben so herum auf seine Stirn, wie er ihn für sich selbst lesbar schreiben würde. Wer dann jedoch auf die Stirn schaut, sieht den Buchstaben spiegelverkehrt.
- Die Machtlosen hingegen hatten deutlich stärker ihre stirnlesenden Mitmenschen im Blick und malten das E so herum, dass diese es lesen konnten.
E-Test wird dieses Experiment seitdem genannt, das sich auch perfekt für eine Betriebsfeier eignet. Das alles macht Menschen zwar noch nicht zu unmoralischen Tyrannen, ist aber der erste Schritt in die falsche Richtung.
Es kommt aber noch schlimmer: Wie Galinsky in einer Reihe weiterer Experimente zeigen konnte, neigen Menschen, die sich mächtig fühlen, ebenfalls dazu, sich ihr unmoralisches Verhalten schönzureden.
Als der Wissenschaftler etwa Probanden einen Fahrer beurteilen ließ, der sämtliche Tempolimits missachtete, weil er zu spät dran war, fanden die auf mächtig gepolten Versuchsteilnehmer das zwar nicht okay – bei sich selbst aber schon. Falls sie selbst in eine solche Situation kommen würden, konnten sie das jederzeit rechtfertigen und fanden zahlreiche Gründe dafür, andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden und sich über Regeln hinwegzusetzen.
Der Kekstest
Dazu passt auch der sogenannte Kekstest: Bei diesem Experiment bildeten Forscher mehrere Gruppen zu je drei Studenten, die anschließend über kontroverse Themen diskutieren sollten.
Einer der Probanden wurde jedoch per Los dazu bestimmt, die Argumente der anderen Kommilitonen hernach vor allen zu beurteilen. Man könnte auch sagen, er bekam einen Fetzen Macht zugespielt.
Als das Trio zur Abschlussrunde wie zufällig einen Teller mit fünf Keksen gereicht bekam, griffen die Ermächtigten häufiger und ungenierter zu, kauten mit offenem Mund und hatten nicht einmal Skrupel den Tisch zu bekrümeln. Schon das kleine bisschen Macht reichte aus, um sie all ihr Benehmen vergessen zu lassen und sich wie selbstverständlich einen höheren Anteil zu nehmen, der ihnen als Machtperson vermeintlich zusteht.
Man könnte auch sagen: Sie mutierten zu Krümelmonstern.
Paradoxon der Macht: Der Trittbrettfahrer-Effekt
Dass der Mensch dem Schweinehund vielleicht doch näher ist als dem Affen, vermutete schon der US-Ökonom Vernon Smith, der diesem Wesenszug bereits in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts auf die Schliche kam und dafür 2002 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Bei seinem Versuch konnten die Probanden Geld in eine Gemeinschaftskasse einzahlen und so vermehren, der Gewinn wurde anschließend an alle zu gleichen Teilen ausgezahlt.
Allerdings hatten die Teilnehmer die Wahl zwischen zwei Strategien:
- kooperieren und einzahlen oder
- nicht einzahlen und trotzdem profitieren.
Das Experiment zeigte: Spielten alle mit, erzielten auch alle den höchsten Gewinn. Den höchsten Einzelprofit aber gab’s für egoistisches Schmarotzen.
Sie ahnen natürlich, was passierte: Zu Beginn spielten vier Fünftel fair, der Rest kassierte mit. Die Ehrlichen waren die Dummen – und verhielten sich schon bald ebenfalls eigennützig. Effekt: Der Profit schmolz mit jeder weiteren Runde und erreichte zum Schluss seinen Tiefststand. Wie die Stimmung. Erst als die Mitspieler die Trittbrettfahrer bestrafen konnten, verbesserte sich die Atmosphäre und das Ergebnis.
In dieselbe Richtung zeigen auch Untersuchungen von Deborah Gruenfeld von der Stanford Universität. Sie fand unter anderem heraus, dass drei Dinge passieren, wenn Menschen mächtig werden:
- Sie fokussieren sich mehr auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse.
- Sie kümmern sich weniger um die Bedürfnisse ihrer Untergebenen.
- Sie halten sich selbst immer weniger an die Regeln, deren Einhaltung sie von allen anderen erwarten.
Sobald manche Menschen Macht über andere Kollegen bekommen, fangen sie an, später zum Meeting zu kommen, andere zu unterbrechen und bei Tisch laut zu schmatzen.
Macht verrät eben nicht nur den Charakter – Macht macht Menschen auch mies. Das sollte einem bewusst sein, bevor man danach strebt. Und vielleicht dient es auch als mahnende Erinnerung, alles daran zu setzen, diesem Machteffekt entgegen zu wirken.