Behaltenskurve: Vergessen graphisch erläutert
Bei der Behaltenskurve handelt es sich um ein graphisches Modell, das den zeitlichen Ablauf und den Umfang dessen, was wir in einer bestimmten Zeit vergessen, veranschaulicht. Zurückzuführen ist diese Veranschaulichung auf den deutschen Psychologen Hermann Ebbinghaus.
Er beschäftigte sich um 1885 mit der Gedächtnisleistung und gilt als einer der Pioniere der Gedächtnisforschung. Die Behaltenskurve wird daher auch als ebbinghaussche Kurve oder Gedächtniskurve bezeichnet.
Für alles, was wir behalten, gibt es eine Entsprechung, was wir vergessen. Eine andere Bezeichnung ist daher Vergessenskurve. Behaltenskurve und Vergessenskurve sind somit zwei Seiten einer Medaille, wie Negativ und Positiv.
Was zeigt die Vergessenskurve an? Den Verfall erworbenen Wissens; nach 20 Minuten können Menschen nur noch 60 Prozent abrufen. Eine Stunde später liegt das Erlernte nur noch bei knapp der Hälfte (45 Prozent). Und einen Tag später sogar nur noch bei 34 Prozent.
23 Prozent sind nach sechs Tagen noch in Erinnerung und nur läppische 15 Prozent bleiben dauerhaft im Gedächtnis verankert. Charakteristisch für den Verlauf der Kurve: Sie ist stark abfallend innerhalb der ersten Stunden und Tage, das heißt, es wird nur noch wenig erinnert. Im Laufe der Zeit fällt sie nicht mehr so stark ab, das heißt, es wird weniger vergessen.
Experiment mit Lerninhalten
Ebbinghaus unternahm ein Experiment: Er prägte sich inhaltslose Sätze so lange ein, bis er sie fehlerfrei aufsagen konnte. Anschließend wurde zu unterschiedlichen Zeiten überprüft, welche Inhalte er noch erinnern konnte.
Dabei stellte er Folgendes fest:
- Es wirkte sich auf die Behaltenskurve aus, ob er gängige Wortzusammensetzungen oder willkürlich zusammengesetzte Silben verwendete.
- Die sinnlos zusammengesetzten Silben konnte er umso besser behalten, je mehr Zeit er auf das Erlernen und Wiederholen am ersten Tag verbracht hatte.
An Ebbinghaus‘ Experiment wird allerdings genau der Umstand kritisiert, dass er mit sinnlosen Silbenreihen experimentierte. Ebbinghaus entschied sich für dieses Vorgehen, weil er die Messung seiner Gedächtnisleistung nicht verfälschen wollte. Was auf den ersten Blick methodisch wissenschaftlich wirkt, birgt bei näherer Betrachtung das Problem, dass keinerlei Kontrolle vorlag.
Der Versuchsaufbau, aber auch die nur scheinbar sinnlos zusammengesetzten Silben (die sehr wohl durch dialektale Bezüge sinnvoll sein konnten) ließen Kritiker vermuten, dass die Behaltenskurve womöglich doch nicht ohne Weiteres gültig ist.
Allerdings zeigten auch unter strengeren Bedingungen wiederholte Versuche wie die des deutschen Psychologen Georg Elias Müller, dass Ebbinghaus‘ Behaltenskurve und die damit verbundenen Ergebnisse im Wesentlichen Gültigkeit besitzen.
Psychologische und neuronale Vorgänge im Gehirn
Diese theoretischen Vorüberlegungen spielen insofern eine Rolle, als dass sie enormen Einfluss auf Lerntheorien haben und wie wir uns Wissen aneignen. Denn Sinn und Zweck des Lernens ist, dass wir Wissen aufnehmen, um es bei Bedarf jederzeit (oder zumindest für die Prüfung) abrufen zu können.
Dafür müssen wir unser Gedächtnis aktivieren. Aber wie genau gelangen die Inhalte eigentlich dort hinein? Wir verfügen von Geburt an über 100 bis 150 Milliarden Nervenzellen, Neuronen genannt. Im Laufe des Lebens verbinden sich diese untereinander, bilden neuronale Netzwerke. Diese sind ein Resultat unserer Lernerfahrungen.
Anders ausgedrückt: Das Aneignen von Wissen fördert neue Verbindungen beziehungsweise stärkt die vorhandenen. Aus psychologischer beziehungsweise neurowissenschaftlicher Sicht ist längst noch nicht alles über das Gehirn erforscht. Bekannt ist allerdings, dass der Hippocampus wichtig für das dauerhafte Behalten von Informationen ist.
Leicht gelangen sie dorthin, wenn Informationen mit Gefühlen verbunden sind. Entscheidend ist auch die Qualität des Gefühls: Positiv besetzte Informationen werden anders verarbeitet und abgespeichert als negativ besetzte. Während erstere im Wissens-Gedächtnis gespeichert werden, sind letztere im Bilder-Gedächtnis.
Mehr behalten: Kampf dem Vergessen
Aus der eigenen Praxis wird jeder einmal die Erfahrung gemacht haben, dass manche Dinge sich leichter, andere schwerer merken lassen. Abgesehen davon, ob die Inhalte interessant sind oder Sie sie sich „einprügeln“ müssen, hängt Ihr Lernerfolg maßgeblich von der Lernmethode ab.
Die Behaltenskurve zeigt vor allem, welche Erfolge sich mit dem Einsatz unterschiedlicher Lernmethoden beziehungsweise der Nutzung verschiedener Kanäle erzielen lassen. Wie wahrscheinlich es ist, dass wir etwas behalten, zeigt die Nutzung der Sinnesorgane:
- Hören: 20 Prozent werden erinnert
- Sehen: 30 Prozent werden erinnert
- Hören und Sehen: 45 bis 50 Prozent werden erinnert
- Hören, Sehen und Wiederholen: 70 Prozent werden erinnert
- Hören, Sehen, Wiederholen und selbst erfahren: 90 bis 92 Prozent werden erinnert
Der deutsche Biochemiker Frederic Vester entwickelte auf seiner Grundlage des systemischen Denkens die Theorie der vier Lerntypen, der zufolge jeder Mensch bestimmte Kanäle bevorzugt:
Wenngleich keiner dieser Lerntypen in Reinkultur vorkommt, verdeutlicht diese Theorie, warum manche Inhalte sich so schlecht abspeichern lassen. Unter Umständen haben Sie einfach nur nicht den von Ihnen bevorzugten Kanal bedient. Die meisten Menschen sind Mischtypen, leicht nachvollziehen lässt sich das in Vortragssituationen:
Wer lediglich einem Vortrag lauscht, bei dem der Redner vorne am Pult etwas vom Blatt abliest, wird den Inhalt binnen 20 Minuten noch relativ gut rekapitulieren können.
Gemäß der Behaltenskurve steigen die Aussichten darauf, dass er wesentliche Inhalte des Vortrags erinnert, wenn außerdem im Rahmen einer Präsentation Folien zur Veranschaulichung gezeigt werden.
Tauscht sich der Zuhörer im Anschluss an den Vortrag mit anderen Teilnehmern aus, steigen die Chancen des Behaltens auf 70 Prozent und wenn er anschließend einen Blogartikel darüber verfasst oder aber das Vorgetragene in irgendeiner Form umsetzt, wird das Gelernte ins Langzeitgedächtnis übergehen.
Genau dieser Effekt lässt sich auch bei Lerngruppen beobachten, wenn Studenten gemeinsame Aufgaben lösen oder an einer Konstruktion tüfteln: Das zuvor theoretische Wissen verfestigt sich.
Beeinflussung der Behaltenskurve durch Lernmethoden
Es gibt verschiedene Techniken, mit denen Sie sich Wissen aneignen können. Die häufigste dürfte das Lernen durch Lesen sein, gerade im Selbststudium. Lesen allein spielt in der Behaltenskurve eine eher geringe Rolle, da es der dauernden Wiederholung (am besten laut vorsagen, wie beim Vokabeln lernen) bedarf.
Wir stellen Ihnen hier die fünf bekanntesten Lerntechniken vor, die außerdem erfolgversprechend sind:
-
Erstellen Sie eine Mindmap
Mindmaps sind eine in den siebziger Jahren von dem Engländer Tony Buzan entwickelte Kreativitätstechnik, bei dem eine sogenannte Gedankenlandkarte gezeichnet wird. Im Mittelpunkt steht ein zentraler Begriff, von dem aus sich andere Ideen und Schlüsselwörter abzweigen, so dass eine Baumstruktur entsteht. Mit Blick auf die Behaltenskurve bedienen Mindmaps wenigstens drei von vier Sinneskanälen, so dass die Aussichten des Erinnerns ziemlich hoch stehen.
-
Arbeiten Sie nach der Loci-Methode
Bei der Loci-Methode werden Orte und Objekte mit Lerninhalten verknüpft. Dabei schreiten Sie in Gedanken eine bestimmte Route ab, zu der Sie zuvor Informationen abgespeichert haben. Diese Methode eignet sich vor allem, wenn Stichworte und Reihenfolgen erinnert werden müssen.
-
Erfinden Sie eine Geschichte
Diese Methode hilft, wenn Sie sich Buchstaben- oder Zahlenabfolgen merken müssen. Angenommen, Sie wollten sich die Kombination 420108 einprägen. Bilden Sie dazu einfach eine Kurzgeschichte, beispielsweise: Zu viert standen Sie mit Freunden bei der Weltmeisterschaft 2010 in Deutschland in einer Endlosschlange an der Imbissbude.
-
Benutzen Sie Karteikarten
Bei Karteikarten kommt es auf den richtigen Einsatz der Lernmethode an. Sie einfach nur zu lesen, bringt nicht den gewünschten Erfolg. Es sind die gezielten Wiederholungen und lautes Vorlesen, die die Behaltenskurve steigen lassen. Wer außerdem auf eine hübsche Box und Karteikarten in unterschiedlichen Farben zurückgreift, steigert die Chancen der Erinnerung. Bewährt hat sich folgendes System, bei dem Sie in unterschiedliche Fächer gliedern:
- In das erste Fach kommen die Karten mit den neuen Lerninhalten. Sie lernen Sie und sobald Sie sie auswendig können, wandern Sie ins zweite Fach, andernfalls bleiben Sie hinten im ersten Fach. Dieses Fach wird täglich gelernt.
- Im zweiten Fach überprüfen Sie Ihr Wissen alle zwei Tage. Sobald Sie die Inhalte kennen, kommen die Karten ins dritte Fach, ansonsten wandern sie zurück ans Ende vom ersten Fach.
- Die Inhalte im dritten Fach werden einmal pro Woche getestet, wenn Sie sie beherrschen, darf die Karte ins nächste Fach, anderenfalls kommt sie ganz nach hinten ins erste Fach.
- Die Kärtchen des vierten Fachs werden alle zwei Wochen überprüft.
- Die Inhalte aus dem fünften Fach werden einmal im Monat an einem festen Wochentag überprüft. Wenn Sie sie beherrschen, können Sie ganz aus dem Karteikasten herausgenommen werden.
-
Sorgen Sie für ausreichend Erholung
Wenngleich Erholung weniger wie eine Lernmethode wirkt, trägt sie entscheidend zum Erfolg Ihrer Bemühungen bei. Die Art der Erholung sollte ebenfalls sämtliche Sinneskanäle ansprechen. So wird das Gedächtnis einmal durchgepustet und Sie haben eine Chance, das aufgenommene Wissen zu sortieren. Erholung ist notwendig in Form von Pausen, ausreichend Schlaf, Pflegen sozialer Kontakte, Sport und Spiel.
Was andere Leser noch gelesen haben
- Gedächtnistraining: Die besten Merk- und Mnemotechniken
- Lerntipps für Studenten: Die besten Tipps und Tricks
- Lernmythen: Was beim Lernen wirklich hilft
- Lernplan erstellen: Entspannter lernen
- Hirndoping für Klausuren: Was wirklich hilft
- Auswendig lernen: Wissen schnell verinnerlichen
- 7 originelle Sprachlerntipps, die auch noch Spaß machen
- Sprache lernen: 13 effektive Tipps
- Fremdsprache lernen: Neben dem Vollzeitjob?
- Prüfungsvorbereitung: So bestehen Sie jede Klausur
- Kaugummi kauen: Kau dich schlau!
- Selbstorganisation lernen: Mehr Ordnung, bessere Ergebnisse