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Ordnungswahn: Zwischen Nutzen und Zwang

Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum suchen. Das Genie beherrscht das Chaos. Die Euphemismen rund um weniger ordnungswillige Zeitgenossen schlagen sich in etlichen Sprüchen nieder – Ordnung wird dann gerne mal mit Ordnungswahn gleichgesetzt. Daher findet sich Ordnungswahn eher in Zuschreibungen durch andere als dass es eine Selbstbezeichnung wäre. Nur was ist Ordnungswahn eigentlich? Gehört ein ordentlicher Schreibtisch schon dazu und ist automatisch unordentlich, wer einen vollen Schreibtisch hat? Welche Eigenheiten Ordnungswahn mit sich bringt und was sich daraus ableiten lässt…



Ordnungswahn: Zwischen Nutzen und Zwang

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Ordnungswahn Fachbegriff: Was ist darunter zu verstehen?

Ordnungswahn ist kein Fachbegriff, etwas näher kommt der krankhaften Ausprägung von Ordnungsliebe der Begriff Ordnungszwang.

Ordnungswahn ist vielmehr eine umgangssprachliche Bezeichnung für etwas, das unter Umständen bereits zwanghafte Züge trägt. Wer seine Kugelschreiber grundsätzlich im rechten Winkel zum Laptop anordnen muss, wer ohne Ordnung und Symmetrie Chaos empfindet, leidet vermutlich an Ordnungszwang.

Ordnungszwang ist eine Zwangsstörung, die als Krankheit im ICD-10 klassifiziert wird. Es wird zwischen zweierlei Zwangsstörungen unterschieden:

  • Zwangsgedanken

    Dazu gehören Zwangsstörungen wie beispielsweise Zählzwang, Grübelzwang, zwanghaft aggressiven Gedanken nachzugehen, Ängste oder Zweifel ständig zu wälzen.

  • Zwangshandlungen

    Hierunter werden Zwänge wie Berührzwang, Kontrollzwang, Waschzwang oder der Ordnungszwang gefasst.

Ordnungswahn: Sind Ordnungsliebende Fanatiker?

Wenn jemand bei schiefen Bildern an der Wand schon Bauchschmerzen bekommt, dann könnte es sein, dass diese Person rassistische beziehungsweise homophobe Ansichten vertritt.

Forscher der Universität Yale konnten den Zusammenhang zwischen Ordnungswahn und Rassismus beziehungsweise Homophobie in einer Studie nachweisen.

Die Psychologen Anton Gollwitzer, Julia Marshall, Yimeng Wang und John Bargh wollten wissen, inwieweit die Abneigung gegen unaufgeräumte Schreibtische oder nicht angebrachte Kacheln zur Stigmatisierung von Individuen beiträgt.

In acht Experimenten wurden den Probanden (darunter Kinder und Erwachsene aus China und den USA) diverse Gegenstände, unregelmäßige Formen oder unterbrochene Muster vorgelegt. Ebenso bekamen die Probanden Szenen zu sehen, in denen ihr Ordnungssinn gefragt war.

Es wurden die Reaktionen auf Schwarze, Übergewichtige, Menschen mit niedrigem beziehungsweise hohem IQ sowie Menschen mit Hautkrankheiten ergründet. Dafür wurde den Probanden unter anderem ein runder Kuchen gezeigt, der in ungleiche Stücke geschnitten war.

Tatsächlich konnten bei den Teilnehmern Gefühle wie Unwohlsein, Ärger oder sogar Angst festgestellt werden. Exakt die gleichen Gefühle wurden bei Bildern von Menschen hervorgerufen, die eine andere Hautfarbe hatten oder in irgendeiner Art einer Randgruppe angehörten.

Fazit: Je höher die Abneigung gegen Abweichungen bei geometrischen Mustern, desto größer die Werte bei Diskriminierung. Die Forscher kommen in Nature Human Behaviour zu folgendem Ergebnis:

Die Beziehung zwischen Musterabweichung und der Abneigung gegen soziale Abweichung ist groß und unabhängig von der Kultur.

Außerdem werden die üblichen Erklärungen für Vorurteile und Diskriminierung – ein Gefühl von Bedrohung – damit zumindest infrage gestellt.

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Ordnungswahn Krankheit: Ordnungsliebe oder schon Ordnungszwang?

Für Menschen mit Ordnungszwang ist Symmetrie das A und O. Sie haben das dringende Bedürfnis, Gegenstände nach einer feststehenden Systematik zu arrangieren.

Wird diese Symmetrie durch etwas Unerwartetes durcheinandergebracht – etwa weil ein Kollege nicht so ordentlich ist und seine Materialien woanders ablegt, dann leidet die Lebensqualität der Betroffenen darunter.

Daher wird täglich viel Zeit darauf verbracht, die Ordnung zu kontrollieren und wiederherzustellen. Da diese Ordnung jedes Utensil erfasst und bis ins kleinste Detail geht, ist sie sehr zeitaufwendig.

Dass diese extreme Ausprägung von Ordnungswahn als Zwangsstörung bewertet wird, ist übrigens noch nicht so lange her. Vor rund 25 Jahren hätte man so eine Person meist noch als Exzentriker bezeichnet, der seine Marotten pflegt.

Seit der Leidensdruck von Betroffenen in der Psychologie erkannt und Zwangsstörungen insgesamt bekannter wurden, ist es leichter geworden, psychologische Hilfe zu bekommen.

Die Frage ist also tatsächlich, wie stark sich der Wunsch nach Ordnung im Alltag, das heißt im Berufsleben und im Privatleben, auswirkt. Haben Sie beispielsweise einfach nur eine Aversion gegen Unordnung oder verwenden Sie mehr Zeit aufs Aufräumen statt auf die eigentliche Arbeit?

Von außen lässt sich schlecht in die Köpfe anderer Menschen hineingucken. Überhaupt ist Vorsicht mit psychologischen Etikettierungen angesagt. Aber wenn Ihr Kollege ständig darüber klagt, wie viel er noch aufräumen muss, obwohl nach einhelliger Meinung des Teams von Unordnung keine Rede sein kann, dann spricht zumindest einiges für Ordnungswahn und es ist Zeit für ein Gespräch.

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Ordnungsfanatiker versus kreativer Geist

Ordnung ist das halbe Leben. Ich lebe in der anderen Hälfte. Aus diesem Spruch spricht fast schon so etwas wie Trotz oder Stolz darauf, dass jemand unordentlich ist. Im Allgemeinen wird Ordnung Unordnung vorgezogen.

Könnte es also sein, dass diejenigen, die anderen gerne mal Ordnungswahn unterstellen, in Wirklichkeit sogar etwas neidisch sind? So ein ordentlicher Arbeitsplatz sendet durchaus Signale nach außen:

Die Person geht planmäßig und strukturiert vor. Der Arbeitsplatz ist übersichtlich und sauber, die Person weiß zu jedem Zeitpunkt ganz genau, wo sich ihre Unterlagen befinden. Sie ist offenbar gut in ihrer Selbstorganisation.

Demgegenüber scheinen sich Menschen, deren Schreibtisch nicht so ordentlich ist, immer rechtfertigen zu müssen. Und das lautet dann so, dass derjenige ein Freigeist ist! Der sich nicht in so schnöde Zwänge wie das Aufräumen von Arbeitsplätzen hineinpressen lassen will.

Stattdessen ist er unglaublich kreativ und lässt seiner Phantasie freien Lauf. Und außerdem hat er noch Spaß am Leben, während der Kollege in seinem Ordnungswahn einfach nur ein Spießer ist.

Ordnungswahn ist kontraproduktiv

Alles, was zwanghaft ist und den Menschen in irgendeiner Form behindert, ist schädlich, das ist klar. Dennoch schwingt bei Ordnungswahn ein bisschen die Vorstellung von der perfekten Ordnung mit – immer alles finden, keine unnötige Zeit mit Suchen verplempern.

Und mal ehrlich: Predigen nicht sämtliche Ratgeber rund ums Zeitmanagement, dass es sinnvoll sei, Ordnung zu halten? Der amerikanische Historiker und Management-Professor Eric Abrahamson sieht das anders. Seinen Beobachtungen zufolge verplempern Menschen durch ihren Ordnungswahn 36 Prozent mehr Zeit mit Suchen – wie kann das sein?

Abrahamsons Antwort darauf: Alles, was sich auf einem Schreibtisch befindet, ist griffbereit. Sie müssen keine langen Wege zu irgendwelchen Aktenschränken zurücklegen. Statt beispielsweise zehnmal zu einem bestimmten Fach im Aktenschrank gehen und hineingreifen zu müssen, sammeln Sie diese zehn Akten gestapelt auf dem Schreibtisch.

Die Zeit, die Sie für die Gänge zum Schrank einsparen, können Sie anderweitig nutzen. Ordnungswahn ist laut Abrahamson etwas, das viel Zeit in Anspruch nimmt – Zeit, in der eben nicht die eigentliche Arbeit erledigt werden kann. Darüber hinaus sei Unordnung ein Zeichen der Macht:

Durch dieses Chaos blickt nur derjenige, der es veranstaltet hat – insofern sei er unersetzbar.

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Ordnungswahn Ursachen: Mehr als nur Ordnungsliebe

Für Ordnungswahn kann es verschiedene Ursachen und Auslöser geben. Nicht jeder Mensch ist besonders ordnungsliebend – manche legen Ordnung wesentlich großzügiger aus. In einigen Unternehmen besteht zudem eine Clean Desk Policy, also offizielle Unternehmensrichtlinien, wie mit dem Arbeitsplatz und bestimmten Akten zu verfahren ist.

Hierbei geht es längst nicht nur um einen Ordnungsfetisch seitens des Arbeitgebers, sondern die Umsetzung datenschutzrechtlicher Bestimmungen. Ein Arbeitnehmer muss also keinen besonderen Ordnungswahn besitzen, sondern handhabt Ordnung bei sich Zuhause womöglich ganz anders als auf der Arbeit.

Beobachten Sie bei sich oder anderen regelrechten Ordnungswahn, stellt sich die Frage, welche Funktion er hat:

  • Bequemlichkeit

    Die eine Möglichkeit: Sie suchen ungerne. Bevor Sie noch lange nach Ihren Unterlagen suchen, sagen Sie sich, dass Sie lieber einmal Zeit in die Überlegung investieren, wo was verstaut werden soll. Und dann ist das Thema für alle Zeit erledigt.

  • Aktionismus

    Bei anderen mag Ordnungswahn blinder Aktionismus sein. Sie lenken so von dringenden Aufgaben ab, sehen dennoch sehr beschäftigt aus. Aktionismus ist auf eine Art beruhigend, denn so haben Sie immer das Gefühl, aktiv etwas zu unternehmen – leider sind Sie nicht besonders produktiv dabei.

  • Überforderung

    Vielleicht ist jemand mit Ordnungswahn auch schlicht überfordert. Er hat zu viele Aufgaben auf einmal, kann keine Prioritäten setzen und somit fängt er mit Dingen an, die ihm den erhofften Überblick verschaffen.

  • Sicherheit

    Wenn alles schön an Ort und Stelle sortiert ist, verleiht das jemandem mit Ordnungswahn ein Gefühl der Sicherheit: Das Leben verläuft in geordneten Strukturen, Sie haben alles im Griff, nichts Störendes oder in irgendeiner Form vom normalen Prozedere Abweichendes irritiert Sie. Es sind somit keinerlei Lösungen für neu auftretende Probleme erforderlich.

Tipps zum Umgang mit Ordnungswahn

Wer selbst im Kühlschrank noch die Lebensmittel streng sortiert und dafür sorgt, dass die aufgeschlagene Akte bündig mit der Tischkante abschließt, schießt womöglich übers Ziel hinaus. Wichtig ist, inwieweit dieser Ordnungswahn den Betroffenen belastet?

Ermöglicht er ihm einfach nur schnell zum Ziel zu gelangen, nämlich die erforderlichen Informationen oder Gegenstände sofort griffbereit zu haben, ist alles im grünen Bereich. In dem Moment jedoch, wenn er mit alternativen Aufräumkonzepten seiner Kollegen nicht klarkommt oder es nicht schafft, seine eigentliche Arbeit zu erledigen, ist meist Hilfe erforderlich.

Sofern Sie davon abhängig sind, dass ihnen dieser Kollege zuarbeitet, sollten Sie die betroffene Person darauf hinweisen, Deadlines fristgerecht einzuhalten. Solche Anweisungen können am besten vom direkten Umfeld oder dem Vorgesetzten kommen.

Ist der Leidensdruck allerdings entsprechend groß und der Betroffene trotz konkreter Anweisungen nicht in der Lage, seiner eigentlichen Arbeit nachzukommen, kann therapeutische Hilfe sinnvoll sein. Dort wird dann der genauen Ursache für den Ordnungswahn auf den Grund gegangen.

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