Definition Natürlichkeit: Nichts als die nackte Wahrheit… wirklich?
Die Latte liegt hoch. Regelmäßig erwarten wir in unserem sozialen Umfeld unverstellte Natürlichkeit. Doch steckt bereits darin ein Widerspruch:
- Beispiel Kleidung: Wer natürlich ist, der trägt buchstäblich nicht zu dick auf. So jemand verzichtet auf Protz und eitlen Tand und kleidet sich angemessen und ursprünglich. Dabei verhindert bereits diese Auflage Natürlichkeit in der Kleiderauswahl. Womöglich sind doch gerade das viele Blingbling und der extraordinäre Nonkonformismus Ausdruck der wahren Persönlichkeit.
- Beispiel Sprache: Natürlichkeit offenbart sich genauso im gesprochenen Wort. Viele Fremdwörter, eine gespreizte Sprache, Bandwurmsätze – all das empfinden wir als unnatürlich, als affektiert oder aufgesetzt. Doch untersagt gerade dieses Verlangen dem anderen zu sprechen, wie ihm oder ihr der Schnabel gewachsen ist.
- Beispiel Körpersprache: Es ist vielleicht eines der stärksten Signale für vermeintliche Natürlichkeit – die Lockerheit und Lässigkeit in unserem Habitus und den Gesten. Bloß nicht zu steif sein, immer ruhig und gelassen bleiben und ja nicht übertrieben gestikulieren! Aber das ist auch so, als sage man einem Introvertierten: „Nun sei doch mal ein bisschen extrovertierter!“
Der Effekt bei all diesen Forderungen und Definitionen ist, dass Sie den Begriff der Natürlichkeit ad absurdum führen. Damit konfrontiert, fragen sich viele nur noch: Wie sollte ich mich hier und da am besten verhalten? Was ist gerade noch angemessen? Wie komme ich gut an? Das Ergebnis dürfte so ziemlich das genaue Gegenteil von Natürlichkeit sein – eine Mogelpackung.
Natürlichkeit: Aber bitte nur bei anderen!
Das ist das zweite Dilemma der Natürlichkeit: Nicht nur, dass die unterschwellige Definition, was noch natürlich ist, eben diese Natürlichkeit verhindert – wir setzen uns nur allzu gerne selbst die Maske auf.
Zwar erwarten wir regelmäßig von unseren Mitmenschen, dass sich diese uns gegenüber doch bitte möglichst natürlich verhalten. Gleichzeitig sind wir kaum dazu bereit, all unsere Masken fallen zu lassen und unsere wahres Ich zu offenbaren.
Was hinter dieser fast schon schizophrenen Doppelmoral steckt, ist letztlich ein ziemlich egoistisches Motiv: Selbstschutz.
Natürlichkeit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um Vertrauen zu einem anderen Menschen aufzubauen. Nur wenn wir das Gefühl haben, es mit einer ehrlichen und aufrichtigen Haut zu tun haben, können wir unsere anfängliche Skepsis ablegen.
Oder kurz: Natürlichkeit verleiht Glaubwürdigkeit.
Wie kommt es aber dann, dass wir uns selbst in einigen Situationen lieber verstellen, statt unser wahres Ich zu präsentieren?
Die kurze Antwort: Unsicherheit und pure Angst. Denn Natürlichkeit hat einen großen Nachteil: Sie macht angreifbar und verletzlich.
Wenn wir uns so geben, wie wir tatsächlich sind – ohne Masken, ohne aufgesetzte Attitüde – geben wir viel von unserer Persönlichkeit preis und riskieren zugleich die Ablehnung derselben. Doch genau das ist eines unserer größten Bedürfnisse: gemocht zu werden.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Bis in die Haarspitzen hungern wir nach Anerkennung und Sympathien. Warum sonst wollen so viele (junge) Menschen berühmt werden oder ein Promi und Star im Internet? Die Aussicht auf Millionen Menschen, die einem mit erhobenem Daumen zujubeln, ist einfach zu verlockend. Und wenn schon nicht so, wie wir wirklich sind, dann wenigstens nur mit der zur Schau gestellten Schokoladenseite – im Extrem reicht sogar eine gefakte Fassade. Hauptsache ein Hauch von Gegenliebe. Dabei ist auch die – konsequenterweise – nur ein Fake, eine Illusion. Geliked wird der Schein, nicht das Sein.
Und so verstellen wir uns und schützen uns durch viel Schminke und Maskerade, die vermeintlich gut ankommt, um einem Bild zu entsprechen, von dem wir glauben, dass es unser Gegenüber erwartet und das gerade eben noch natürlich wirkt. Welch Irrsinn!
Der Selbstbetrug hält aber zumindest ein Trostpflaster bereit: Wer dennoch Ablehnung erfährt, kann sich wenigstens damit beruhigen, dass nicht seine wahre Persönlichkeit abgelehnt wurde, sondern nur das Bild, das er oder sie vermitteln wollte. Masken lassen sich schließlich auch wechseln – und man selbst ist dabei fein raus.
Warum sich Natürlichkeit auszahlt
Es gibt auch einen positiven, altruistischen Grund, nicht natürlich zu sein. In diesem Fall sprechen wir allerdings eher von einer Notlüge. Die Wahrheit kann bekanntermaßen auch weh tun. Um unser Gegenüber zu schützen, dessen Gefühle nicht zu verletzen oder einfach nur um freundlich zu sein, wird die Natürlichkeit deshalb dem guten Zweck hinten angestellt.
Das ist eine der wenigen Ausnahmen, in denen sich Natürlichkeit nicht unbedingt auszahlt. Ansonsten aber spricht mehr dafür:
- Sie können Sie selbst sein. Sich immer nur verstellen, einer Rolle und Erwartung entsprechen müssen – das strengt enorm an. Und für was? Für eine Fiktion? Überdies laufen wir ständig Gefahr, dass die Fassade eines Tages bröckelt und die lieben Mitmenschen merken, dass sich dahinter ein ganz anderer versteckt. Nur leider reagieren die meisten auf diese (eigentlich positive) Ent-Täuschung alles andere als positiv. Andersrum wird eher ein Schuh daraus: „Natürlichkeit ist die Schwester der Freiheit“, sinnierte einst schon Christian Morgenstern.
- Sie bauen echte Beziehungen auf. Nur wenn Sie wirklich Sie selbst sind, können Sie auch echte und belastbare Beziehungen – egal, ob Freundschaft oder Liebe – aufbauen. Alle Kontakte, die Sie knüpfen, während Sie nicht natürlich sind, basieren von Anfang an auf einer Lüge.
- Sie stärken Ihr Selbstvertrauen. Auch Ihr Selbstbild und besonders Ihr Selbstvertrauen leiden auf Dauer darunter, wenn Sie nicht Sie selbst sind. Über kurz oder lang verstellen Sie sich nicht nur aus Gewohnheit, sondern auch weil Sie glauben, mit Ihrer wahren Persönlichkeit nicht überzeugen zu können.
Natürlichkeit: 3 Anzeichen, dass Sie nicht Sie selbst sind
Und wie sieht es bei Ihnen aus? Gehören Sie zu der Spezies der Doppelmoralisten, die Natürlichkeit erwartet, bei sich selbst aber die ein oder andere Ausnahme billigend in Kauf nimmt?
Ein solch ehrliches Selbstbild haben nur wenige. Lieber lügen sich manche in die Tasche, finden die absurdesten Erklärungen und Rechtfertigungen für das eigene Verhalten und beschweren sich im gleichen Atemzug über die vielen falschen und vorgegaukelten Tatsachen, denen sie jeden Tag ausgesetzt sind.
Bitte verstehen Sie uns nicht falsch: Das ist keine Anklage, sondern lediglich eine provokante Frage, die mehr Bewusstsein schaffen soll (und das schadet nie): Sind Sie wirklich noch Sie selbst?
Sollten Sie sich in diesen Anzeichen wieder erkennen, ist das vermutlich nicht der Fall:
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Sie stehen nicht zu Ihrer Meinung.
Die eigene Meinung, was sie wirklich denken, halten nicht wenige zurück und hinterm Berg. Wie gesagt: Wenn dies aus liebevoller Rücksicht geschieht (Na Schatz, wie hat die das Essen geschmeckt? Äh…), mag das ein guter Grund sein. Nur zur Regel sollte es nicht werden. Wenn Sie sich selbst immer wieder dabei erwischen, wie Sie anderen nach dem Mund reden, Ihre Meinung bewusst verschweigen oder abändern, um mehr zu gefallen, geht jede Natürlichkeit flöten. Und Ihre womöglich edlen und guten Gedanken gleich mit.
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Sie stehen nicht zu Ihren Schwächen.
Jeder Mensch hat seine ganz persönlichen Stärken und Schwächen. Wie Sie mit diesen umgehen, ist ein starker Indikator dafür, ob Sie wirklich Sie selbst sind oder sich für andere verstellen. Mit genügend Selbstbewusstsein ist es kein Problem, seine eigenen Schwächen anzuerkennen und offen damit umzugehen, mehr noch: Sie können Freunde und Partner finden, die diese ausgleichen. Spielen Sie anderen also keine falschen Tatsachen vor – irgendwann kommt jede Schwäche ans Licht und lässt uns dann wegen des fehlenden Rückhalts stolpern und scheitern.
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Sie belügen sich selbst.
Sie können natürlich nicht nur anderen gegenüber etwas vormachen, sondern auch sich selbst belügen. Sie sind beispielsweise eindeutig nicht Sie selbst, wenn Sie Ihre eigenen Berufswünsche ignorieren, um es anderen recht zu machen und deren Erwartungen zu erfüllen.