Overclaiming Definition: Was ist das?
Wenn Sie mit Ihrem Vermögens- oder Bankberater das nächste Mal über ihre finanzielle Gesamtsituation sprechen, dann stellen Sie ihm diese Frage: Was halten Sie eigentlich von prefixed Fonds?
Wenn Ihnen der Finanzexperte nun lang und breit die Vorzüge und Nachteile dieses Produkts erläutert, weisen Sie am besten höflich zur Tür hinaus. Wenn er hingegen sagt Keine Ahnung, dann ist er vielleicht doch der richtige Mann (oder Frau) für Sie.
Warum? Vorbewertete Aktien sind ein grober Unfug, den es in der realen Finanzwelt nicht gibt. Im Englischen spricht man vom Phänomen des Overclaiming. Etwas weismachen, etwas übertreiben, hinzudichten, überbehaupten.
Menschen, die sich für Experten in einem Fachgebiet halten, sind besonders anfällig für die „Illusion des Wissens“. Anders gesagt: Selbsternannte Experten neigen dazu, ihr Wissen zu überschätzen.
Overclaiming könnte man als eine Melange aus Selbstüberschätzung, Anmaßung und Narzissmus umschreiben.
Es ist eng verwandt mit dem Experten-Syndrom. Oder um es flapsiger zu formulieren: Mit dem Klugscheißer-Syndrom.
Overclaiming: Wie entsteht es?
In einem Experiment befragten Wissenschaftler um Stav Atir von der Cornell University 100 Probanden nach ihrem Finanzwissen. Dabei setzten sie 15 Finanzbegriffe auf eine Liste, von denen einige echt und andere frei erfunden waren.
Ergebnis: Die Probanden, die sich als Finanzgenies eingeschätzt hatten, waren wesentlich anfälliger dafür, auch Kenntnis über die Quatsch-Begriffe für sich zu reklamieren.
Das gleiche Phänomen war feststellbar in Fachbereichen wie…
- Biologie
- Literatur
- Philosophie
- Geographie
Je überzeugter die Probanden also beispielsweise von ihrem Bio-Wissen waren, desto größer auch die Überzeugung, einzelne Begriffe umfassend erklären zu können – selbst dann, wenn es sich um Fake-Begriffe handelte.
In einem anderen Experiment wurde 49 Teilnehmern eine Liste mit mehreren Begriffen vorgelegt – diesmal mit dem Hinweis, dass auch gefälschte Begriffe darunter waren.
Konsequenz: Sogar mit der Warnung im Hinterkopf gaben die selbsternannten Experten häufiger vor, bestimmte Begriffe genau zu kennen, darunter solchen Mumpitz wie „Meta-Toxine“ und „biosexuell“.
Ein manipuliertes Geographie-Quiz schließlich sollte Klarheit darüber bringen, ob wirklich Selbstüberschätzung hinter den Ergebnissen stecke. Die Teilnehmer wurden in drei Gruppen eingeteilt: Gruppe 1 sollte ein einfaches Quiz über bekannte US-Städte absolvieren, Gruppe 2 ein schweres Quiz und Gruppe 3 gar kein Quiz.
Die Probanden aus Gruppe 1 waren hinterher besonders selbstbewusst, hatten sie doch wegen der Leichtigkeit ihrer Aufgabe glänzen können. Danach mussten alle Teilnehmer ein weiteres Quiz absolvieren, diesmal mit echten und falschen Städtenamen.
Über Städte wie Philadelphia herrschte Einigkeit, die kannte jeder. Aber: Die Teilnehmer aus Gruppe 1, die selbsternannten Experten also, behaupteten deutlich häufiger, Fake-Orte tatsächlich zu kennen. Städte wie Cashmere, Oregon zum Beispiel.
Overclaiming: Wie äußert es sich noch?
Overclaiming macht sich in einer Konstellation besonders bemerkbar: in großen Teams.
Die University of California präsentierte nach einer Studie 2016 diese Gleichung: Je größer ein Team, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Teammitglieder ihren individuellen Beitrag zum Gesamterfolg überschätzen. Sie overclaimen.
Das liege aber gar nicht daran, dass sie sich für unersetzlich hielten oder sich gut in Szene setzen wollen. Sie unterschätzen schlicht den Anteil der anderen Teammitglieder.
Dieses Verhalten entspräche der menschlichen Natur, die nun mal sehr egozentrisch ist. Wir beschäftigen uns vorwiegend mit uns selbst, weniger mit anderen.
„Die Teilnehmer waren über das Ausmaß ihres Overclaimings selbst überrascht“, so Juliana Schroeder von der University of California. „Sie dachten, ihre Angaben seien sehr nah an der Realität.“
Ein Ansatz wäre es ihrer Ansicht nach, große Teams in kleinere Einheiten zu splitten – und die Verantortlichkeiten genau zu regeln. Das beuge Overclaiming vor.
Overclaiming: Das gibt es sogar zuhause
Daher verwundert es kaum, dass auch in der Privatsphäre fleißig overclaimed wird.
Schon 1979 hatten Wissenschaftler der University of Waterloo Paare interviewt. Sie legten ihnen eine Liste mit Aktivitäten vor – positiven (z.B. Haushaltsarbeiten erledigen) wie negativen (z.B. einen Streit lostreten). Dann fragten sie die Partner, zu wie viel Prozent sie dafür wohl verantwortlich waren.
Die Antworten legten nahe, dass beide Partner ihre Verantwortung jeweils überbewerteten. Das ist zweifellos dann der Fall, wenn beide Antworten zusammen mehr als 100 Prozent ergeben.
Die eigentliche Überraschung aber war: Die Befragten überschätzten nicht nur ihren Beitrag zu den positiven Geschehnissen, sondern genauso zu den negativen.
Ein weiteres Indiz dafür, dass Overclaiming menschlicher Egozentrik entspringt.
Overclaiming: Wie kann man es verhindern?
Nun kann man Overclaiming als Kuriosum abtun. Es kann allerdings dazu führen, dass man nicht mehr selbst reflektiert – und sein Verhalten nicht ändert. Das kann mitunter gefährlich sein, im Gesundheitsbereich zum Beispiel.
Und: Overclaiming kann auch die Atmosphäre im Büro vergiften. Wenn man die Kollegen gedanklich zu Minderleistern abstempelt, kann das Spannungen auslösen. Nach dem Motto: Ich bin hier doch eh der einzige, der arbeitet.
Verhaltensforscher Nicholas Epley weiß, wie man Overclaiming verhindert. Sein Rat:
Nehmen Sie sich eine Minute Zeit, um über die Leistungen der Kollegen nachzudenken, bevor Sie Ihren eigenen Anteil am Erfolg schätzen.
Ein ganz simpler Mechanismus, aber angeblich sehr wirksam.
Overclaiming: Gab es schon im alten Rom!
Selbsternannte Experten, die sich maßlos überschätzen. Die den Schein von Unantastbarkeit transportieren, sich geradezu gottgleich aufführen. Kommt Ihnen aus der Firma bekannt vor?
Das gab es auch in der Antike schon, im Alten Rom. Nur hieß es dort und damals noch nicht Overclaiming. Wir kennen es vielmehr als Cäsarenwahn. Den Begriff prägte der deutsche Schriftsteller Gustav Freytag im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Paradebeispiel für Cäsarenwahnsinn: Caligula.
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