Warum urteilen wir über andere?
Schon in der Bibel finden sich fromme Wünsche über die Urteilsfreiheit von Menschen. Mit der Realität hat das jedoch wenig zu tun. Wir beurteilen andere ständig. Evolutionär gesehen macht das Sinn: Seit jeher mussten Menschen entscheiden, wer Freund und wer Feind ist. Wem können wir vertrauen? Wer gehört zur eigenen Gruppe? Das Zuordnen und Beurteilen ist bis heute geblieben.
Sinnvoll ist das schnelle Urteil über andere weiterhin. Es erleichtert die Wahrnehmung und auch die soziale Interaktion. Sofort zu wissen, wer einem sympathisch ist und zu wem man lieber Abstand hält, erspart eine Menge Ärger. In manchen Situationen ist es sogar absolut notwendig, Mitmenschen zu beurteilen und zu bewerten.
- Freunde finden
- Einen Partner / eine Partnerin wählen
- Mitarbeiter einstellen
- Team zusammenstellen
- Geschäftspartner auswählen
Für all diese zwischenmenschlichen Konstellationen braucht es Menschenkenntnis und eine treffende Beurteilung. Schließlich will keiner später mit einem Psychopathen zusammenarbeiten oder zusammenleben.
Negative Urteile werten die eigene Person auf
Der Kollege, den Sie nicht leiden können, der Kunde, der Ihnen auf die Nerven geht oder der Bekannte mit dem schrecklichen Kleidungsstil… Wenn wir andere beurteilen, ist das nicht immer nett. Oft sind die Urteile negativ und herablassend – gerade bei Konkurrenz oder Abneigung.
Indem wir andere so schlecht beurteilen, werten wir uns gleichzeitig selbst selbst auf. Die Herabwürdigung erhöht den eigenen Stellenwert. Das wiederum verbessert Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen.
Das Prinzip nutzen auch zahlreiche Trash-Promi-Sendungen im Fernsehen. Zuschauer schalten ein, weil sie über die Protagonisten lästern können. So fühlt man sich gleich umso erhabener, klüger und insgesamt besser.
Andere beurteilen: So schnell geht es
Einen Menschen kennenlernen, sich ein umfangreiches Bild von ihm machen, Charakter, Stärken, Schwächen und Besonderheiten beurteilen? So viel Zeit haben wir nicht, wenn wir andere beurteilen. Tatsächlich fällen wir bereits in der ersten Sekunde des Kennenlernens unser Urteil. Ein einzelner Blick reicht, um eine erste Einschätzung zu treffen. Noch erstaunlicher: Es braucht nicht einmal persönlichen Kontakt, schon das Foto einer anderen Person reicht für unser Urteil.
Selbst wenn wir nur ein Bild sehen, haben wir sofort eine nachhaltige Meinung. Das zeigten Wissenschaftler der Cornell-Universität. Probanden sahen Fotos einer Frau – einmal lächelnd, einmal missmutig schauend. Als Sie die Frau persönlich kennenlernten, hielten Sie an Ihrer ersten Einschätzung fest. Heißt auch: Wenn Sie schon vor dem ersten Treffen Bilder sehen, geben Sie Ihrem Gegenüber erst gar keine richtige Chance.
Faktoren: Wonach beurteilen wir andere?
Aus psychologischer Sicht beurteilen wir andere vor allem in zwei Kategorien: Wärme und Kompetenz. Wir mögen Menschen, die warm und kompetent wirken – wer einen kalten und inkompetenten Eindruck macht, bekommt ein vernichtendes Urteil. Für die Beurteilung spielen aber zahlreiche Faktoren und Effekte eine Rolle:
- Gesichtsausdruck
Ein Blick ins Gesicht verrät eine Menge. Lächelnde Menschen werden positiver eingeschätzt, wirken sympathischer, offener und bleiben besser in Erinnerung. Wer von anderen möglichst gut bewertet werden will, sollte deshalb unbedingt beim ersten Eindruck lächeln. - Körpersprache
Auch Körpersprache und Gesten fließen in das Urteil über andere ein. Wirkt der Gesprächspartner abweisend oder offen und freundlich? Selbst Feinheiten nehmen wir dabei wahr. - Blickkontakt
Direkter Blickkontakt zeigt Interesse, Selbstbewusstsein und Freundlichkeit. Schaut jemand uns direkt an – am besten gepaart mit einem Lächeln – haben wir gleich ein gutes Gefühl. - Worte
Natürlich bewerten wir auch sehr genau, was andere sagen. Dabei geht es um den Inhalt, aber auch um Stimmlage, Betonung und Sprechtempo. Manche Tonlagen führen sofort zu einem „Oh Gott, wie nervig…“
Hinzu kommen Duft, Kleidung oder der Händedruck. All diese Dinge beurteilen wir dabei nicht bewusst. Wir fragen uns nicht gezielt: „Gefällt mir die Körpersprache und lächelt der neue Kollege?“ Wir nehmen unbewusst unzählige Details wahr und fällen intuitiv unser Urteil.
Warum wir Fremde besser beurteilen können
Man kennt sich selbst am besten – und so sollten wir die eigene Person besser beurteilen können. Falsch! Tatsächlich sind unsere Urteile über andere oft genauer und richtiger als die Einschätzung über uns selbst. Simine Vazire zeigte: Bei Eigenschaften wie Intelligenz, Kreativität, Extrovertiertheit oder Introvertiertheit sind andere ein besseres Barometer als die eigene Wertung.
„Persönlichkeit ist nicht, wie du denkst, wie du bist, sondern wie du bist“, sagt die Psychologin. Gut einschätzen können wir hingegen eigene neurotische Ticks oder Ängste. Der Blick von außen sieht aber mehr und ist weniger getrübt.
Menschenkenntnis ist ungleich verteilt
Gemäß dem Better-than-Average-Effekt schätzen Menschen sich selbst prinzipiell besser ein als andere. Eine Selbstüberschätzung in nahezu allen Bereichen – auch in sozialen Kompetenzen und dem Urteilsvermögen. Die Wahrheit ist: Menschenkenntnis ist sehr unterschiedlich verteilt. Einige urteilen treffsicher, andere liegen häufiger daneben.
Besonders intelligente Menschen haben gute Menschenkenntnis und ein insgesamt besseres Urteilsvermögen. Sie bauen häufiger Beziehungen zu Personen auf, denen sie wirklich vertrauen können und die sie seltener hintergehen.
Wer andere Menschen beurteilt, offenbart sich
Es ist ganz natürlich und oft notwendig, dass wir andere Menschen beurteilen – doch kann es ebenso verräterisch und gefährlich sein. So sagt ein bekanntes und kluges Bonmot: Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter als über Paul. Eine andere Lebensweisheit mit ähnlichem Inhalt lautet: „Wenn du mit einem Finger auf einen anderen Menschen zeigst, zeigen vier Finger auf dich zurück.“ Und es stimmt: Jede Aussage, die wir über andere treffen, sagt indirekt eine Menge über uns selbst aus.
Wie wir andere beurteilen, verrät wie wir (über andere) denken – in welchen Mustern, Schablonen und Vorurteilen.
Gerade unreife Charaktere und Persönlichkeiten lassen sich gut daran erkennen, dass sie sich überwiegend über Abgrenzung definieren. Sie brauchen die Abwertung anderer, um sich ihrer selbst sicherer zu sein und sich selbst zu erkennen. Oder um sich allein schon besser zu fühlen.
Vorsicht mit zu vielen negativen Urteilen
Selbsterhöhung durch Erniedrigung offenbart aber vor allem eigene Schwäche oder gar eine veritable Profilneurose. Besser ist das Gegenteil: Wer sich vornehmlich positiv über andere äußert, verrät selbst ein positives Gemüt, sagt Dustin Wood von der Wake Forest Universität.
„Andere positiv zu beurteilen, offenbart unsere eigenen positiven Eigenschaften“, sagte der Sozialpsychologe. Solche Menschen seien meist leidenschaftlicher, glücklicher, höflicher, gutherziger und emotional stabiler. Andere immer schlecht zu reden, kann Anzeichen von Narzissmus und unsozialer Art sein. Solche Menschen leiden wahrscheinlicher an Depressionen und diversen Persönlichkeitsstörungen, glaubt Wood.
Keine vorschnellen Urteile: 3 Tipps
Sie wollen andere nicht mehr so schnell beurteilen oder das Risiko für Fehleinschätzungen minimieren? Diese drei Tipps helfen:
- Nehmen Sie sich Zeit
Auch wenn Sie intuitiv sofort ein Urteil fällen, sollten Sie sich die Zeit nehmen, um mehr über andere Menschen zu erfahren. Suchen Sie das Gespräch, stellen Sie fragen, lernen Sie den anderen kennen. Das reduziert die Gefahr eines vorschnellen Fehlurteils. - Geben Sie anderen eine zweite Chance
Es fällt schwer, die eigene Einschätzung zu überdenken. Trotzdem sollten Sie genau das tun. Geben Sie Menschen eine zweite Chance, wenn Sie anfangs ein negatives Urteil getroffen haben. Hinterfragen Sie Ihre Meinung und bleiben Sie offen, diese zu ändern. - Konzentrieren Sie sich auf das Positive
Ein negativer Aspekt kann Positives leicht überschatten. Statt sich vom Negativen blenden zu lassen, sollten Sie aktiv nach positiven Punkten suchen. Was gefällt Ihnen? Welche Stärken hat der andere?
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