Definition: Was ist Handlungsspielraum?
Was ist eigentlich mit Handlungsspielräumen gemeint? Wann habe ich genügend davon – und wann nicht?
Eine klare Definition kann es kaum geben. Da ist zunächst das Jobprofil, das einem Zwänge auferlegt. Ein Verkäufer im Einzelhandel kann sich sein Arbeitstempo schwerlich selbst vorgeben. Es ist nahezu vollständig von den Kunden abhängig. Auch der klassische Fließbandarbeiter hat klare Vorgaben und Schichtpläne. Autonomie? Eher nein.
Grundsätzlich fehlen Handlungsspielräume, wenn…
- Ihr Vorgesetzter permanent Mikromanagement betreibt.
- es im Unternehmen eine strenge Kontrolle der Mitarbeiter gibt.
- Ihre Arbeitsabläufe bis ins Detail vorgegeben werden – inklusive der Reihenfolge, in der Sie Ihre Aufgaben erledigen.
- Ihre Arbeitszeiten starr und unflexibel sind.
- Sie ständig mit eng gesteckten Deadlines arbeiten müssen.
- Sie nur in festgelegten Zeitspannen Pausen machen können.
- die Mitarbeiter keine eigenen Ziele verfolgen können.
- Mitarbeiter keine eigenen Entscheidungen treffen können.
- Ihnen für Aufgaben nicht genügend Zeit- oder Sachressourcen eingeräumt werden.
- es wenig Mitspracherechte im Unternehmen gibt.
- Sie viel Kritik hören, aber wenig Lob.
- es im Unternehmen starke Hierarchien gibt.
Beispiel: Sie sollen die Projektleitung übernehmen. Mit wem tauschen Sie sich aus? Welche Quellen zapfen Sie an? Welchen Arbeitsschritt setzen Sie als erstes? Welche Arbeitsmittel nutzen Sie? Wenn Ihnen all diese Fragen vorab vom Chef beantwortet werden, dann kann man von fehlenden Handlungsspielräumen sprechen.
Handlungsspielraum: Das Nonplusultra
Es gibt aber auch den gegenteiligen Fall. Stellen Sie sich vor, Ihr Chef bietet Ihnen urplötzlich eine Beförderung an.
Bislang hatten Sie mehr oder weniger unbeobachtet – und unbeachtet – Ihr Tagwerk verrichtet. Zuverlässig, anständig, pflichtbewusst. Es gab keinen Vorgesetzten, dem Sie permanent berichten und Rechenschaft ablegen mussten, Sie konnten sich Ihre Arbeitszeit größtenteils sogar selbst einteilen.
Ab sofort aber werden Sie ein ganzes Team führen, der Leader sein, Ihre Leute motivieren und inspirieren können, unmittelbar an das Top-Management berichten. Das steigert Ihr Prestige, bringt Ihnen mehr Macht und Einfluss im Unternehmen.
Einziger Haken: Mit der Beförderung geht leider keine Gehaltserhöhung einher.
Nehmen Sie das Angebot an?
Vermutlich nicht.
Zwar wünschen sich Angestellte ohne nennenswerte Autorität im Betrieb tatsächlich mehr Einfluss und Renommee. Am Ende aber schlägt Autonomie Macht.
Das fanden Wissenschaftler der Universitäten Köln und Groningen sowie der Columbia University in einer Studie heraus, die im Fachjournal Personality and Social Psychology Bulletin veröffentlicht wurde. Das Team um Joris Lammers vom Kölner Social Cognition Center studierte dafür rund 2.000 Personen auf drei Kontinenten.
Konkret bedeutet das: Wir bevorzugen eine Arbeit, die uns Handlungsspielraum einräumt, in der wir unsere eigenen Entscheidungen treffen, uns selbst den Takt vorgeben können, gegenüber einer, bei der wir andere herumkommandieren dürfen. Handlungsspielraum und Entscheidungsfreiheit – das sind die Trumpfkarten am Arbeitsplatz.
In einem Experiment führte Lammers die Probanden durch das oben angerissene Beispiel. Die eine Hälfte der Probanden sollte sich vorstellen, eine Stelle mit viel Autonomie innezuhaben und eine Position mit viel Einfluss angeboten zu bekommen. Die andere Hälfte sollte das Gedankenspiel umdrehen: Was, wenn ich einen Posten mit viel Einfluss habe und diesen gegen mehr Freiheit tauschen könnte?
Aus Gruppe 1 sagten 74 Prozent, sie würden ihre bisherige Stelle behalten wollen. Von den Teilnehmern aus Gruppe 2 würden hingegen 62 Prozent switchen – zu der Position, die ihnen mehr Handlungsspielräume ermöglicht.
Allerdings könnte es sein, dass eine kräftige Gehaltserhöhung das Pendel in die andere Richtung hätte ausschlagen lassen. Das wurde leider nicht untersucht. Ohne Bonus jedenfalls ließen sich die Probanden nicht für das Korsett der Macht erwärmen. Sie wählten die Freiheit.
Handlungsspielraum: Hier haben Sie ihn
Möglicherweise gibt es im Experiment der Kölner aber einen grundlegenden Denkfehler: Denn meist sind es gerade die Machtpositionen, die einem die größten Freiheiten und Handlungsspielräume geben.
So sagten 90 Prozent der befragten Manager in einer Studie der Uni Birmingham, die im Januar 2017 in Work and Occupations veröffentlicht wurde, dass sie über etwas oder viel Autonomie am Arbeitsplatz verfügen würden.
Für alle anderen Befragten lagen die Werte weit darunter, vor allem über das Arbeitstempo und die Stundenzahl hatten viele keine Verfügungsgewalt. Etwa die Hälfte der geringqualifizierten Arbeiter gab sogar an, bei der Arbeit gar keine Handlungsspielräume zu besitzen.
„Ein höheres Maß an Kontrolle über Aufgaben und Zeitplan am Arbeitsplatz könnten erhebliche Vorteile für die Angestellten mit sich bringen“, so Daniel Wheatley von der Uni Birmingham. Vor allem die Souveränität über Zeitplan und Arbeitsstunden sei entscheidend, um die eigene Arbeit „genießen“ zu können.
Handlungsspielräume: Warum sie gesund sind
Handlungsspielräume erhöhen also unser Wohlbefinden, sorgen für Behaglichkeit.
Aber nicht nur das: Sie halten uns gesund! Norwegische Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass fehlende Autonomie am Arbeitsplatz Schlafstörungen begünstigen kann.
Und die scheinen noch das geringste Übel zu sein. Menschen, die in ihrem Arbeitsumfeld selbstständig ihre Aufgaben planen und koordinieren können, erkranken später seltener an Demenz. Das wiesen Mediziner der Uni Leipzig im Jahr 2014 nach. Als Grundlage diente ihnen die Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung, Leila75+.
Demnach war das Risiko, an Demenz zu erkranken, für Personen mit einem „hohen Niveau an selbstständiger Arbeitsaufgabenplanung und -koordination“ um 27 Prozent geriner als bei denjenigen mit einem „moderaten Niveau“.
Fazit der Leipziger: Selbstständiges Planen hält geistig fit.
Und auch damit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Der Superlativ geht so: Handlungsspielräume bewahren uns vor einem frühen Tod. Wenn nämlich fehlende Autonomie am Arbeitsplatz mit hohen Anforderungen einhergeht, steigert das die Wahrscheinlichkeit eines frühen Ablebens.
Das sagen Forscher der Kelley School of Business der Indiana University im Fachmagazin Personnel Psychology. Sie fanden in einer Studie mit Über-60-Jährigen heraus, dass Jobs mit wenig Handlungsspielräumen, aber hohen Anforderungen, das Mortalitätsrisiko im Vergleich zu Jobs mit geringen Anforderungen um rund 15 Prozent erhöhen. Wer dagegen einen Beruf mit großen Handlungsspielräumen und zugleich hohen Anforderungen bekleidet, verringert sein Todesrisiko um 34 Prozent.
„Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass stressige Jobs eindeutig negative Konsequenzen für die Gesundheit der Angestellten haben, wenn sie mit geringen Handlungsspielräumen und Entscheidungsfreiheit verbunden sind, während stressige Jobs sogar der Gesundheit zuträglich sein können, wenn sie mit großer Freiheit in der Entscheidungsfindung einhergehen“, so Studienautor Erik Gonzalez-Mulé.
Fazit: Mikromanagement macht krank.
So erarbeiten Sie sich Handlungsspielraum
Aus Arbeitgebersicht betrachtet: Warum sollte ich jemandem Handlungsspielräume gewähren, wenn ich von ihm nicht restlos überzeugt bin? Wenn ich ihm nicht vertraue? Wenn er ganz neu im Unternehmen ist?
Für Arbeitnehmer lautet die Antwort also auch: Handlungsspielräume muss man sich erarbeiten. Drei Tipps, wie das gelingt:
- Lernfähigkeit demonstrieren: Unternehmenskultur. Arbeitsabläufe. Übergeordnete Ziele. Wer das schnell verinnerlicht, sich zügig akklimatisiert und einfügt, baut Vertrauen auf. Und Vertrauen führt zu Handlungsspielräumen.
- Ergebnisse vorweisen: Das Endergebnis zählt. Das ist im Sport so, in der Uni-Klausur und im Unternehmen. Wie Sie es zustande gebracht haben, ist zweitrangig. Wer gute Ergebnisse vorlegt, erarbeitet sich automatisch Handlungsspielraum.
- Fragen stellen: Nennen Sie es Reziprozität. Geben und Nehmen. Oder das Prinzip der Gegenseitigkeit. Wer Fragen stellt, die Kompetenz der Kollegen wertschätzt, Ratschläge annimmt und selbst Angebote macht, kann seinerseits mit Entgegenkommen rechnen – und erweiterten Handlungsspielräumen.