Gegenseitigkeitsprinzip: Gefälligkeiten und Schuldgefühle
Es kann äußerst unangenehm sein, jemand anderem etwas schuldig zu sein. Dieses Gefühl kann von Anfang an auftreten, sobald wir einen Gefallen oder ein Geschenk erhalten haben – oder sich mit der Zeit aufbauen und verstärken, wenn wir zunehmend glauben, es wäre längst an der Zeit gewesen, unsere Schuld zu begleichen und im Gegenzug auch etwas zurückzugeben, anstatt immer nur zu bekommen.
Dieser Effekt hat in der Psychologie den treffenden Namen Gegenseitigkeitsprinzip bekommen. Das Prinzip beschreibt den Wunsch, eine Balance zwischen Geben und Nehmen herzustellen. Dahinter steht ein starkes Bedürfnis und entsprechend groß ist auch der Drang, dieses Gleichgewicht zu wahren oder es zu erarbeiten, in der Praxis ist es aber alles andere als leicht, dem Gegenseitigkeitsprinzip zu folgen.
Problem Nummer eins sind bereits die zahlreichen Situationen, in denen Sie entweder selbst einen Gefallen tun oder in die Schuld eines anderen kommen können. Der Kollege nimmt Ihnen eine Aufgabe ab, um Sie bei einem Projekt zu unterstützen, sie bieten an, den Büronachbarn nach Feierabend mit dem Auto mitzunehmen und zu Hause abzusetzen, weil sein Zug verspätet ist, sie werden zum Kaffee eingeladen oder jemand lässt Ihnen den Vorrang, eine wichtige Präsentation zu halten und damit auch Aufmerksamkeit und bei Erfolg einen Teil der Lorbeeren zu ernten.
Schon Kleinigkeiten können das Gegenseitigkeitsprinzip ankurbeln und einen nicht endenden Rattenschwanz aus abwechselnden Gefälligkeiten und Schuldgefühlen nach sich ziehen.
Die zwei Seiten des Gegenseitigkeitsprinzips
Das Gegenseitigkeitsprinzip verbindet die meisten Menschen miteinander. Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, die sozialen Interaktionen gerecht und ausgeglichen zu gestalten. Dies dient auf der einen Seite dem Selbstschutz. Wer mit Gefälligkeiten um sich wirft wie mit Kamellen in Kölner Karneval wird in kürzester Zeit seine persönliche Grenze erreichen und sich selbst zunehmend überfordern. Zeit und Energie sind nunmal begrenzte Ressourcen – und werden auch benötigt, um sich um die eigenen Bedürfnisse, Entwicklungen oder auch Probleme zu kümmern.
Auf der anderen Seite ist das Gegenseitigkeitsprinzip es dem Wunsch geschuldet, gemocht zu werden und in eine Gruppe integriert zu sein. Wer immer nur nehmen will, stößt andere vor den Kopf und muss sich regelmäßig nach neuen Kontakten umschauen, da andere ihm schnell den Rücken zuwenden, wenn sie merken, wie einseitig die Beziehung ist.
In der Regel halten sich Geben und Nehmen für viele Menschen die Waage, doch natürlich gibt es immer wieder Extremformen, denen es dann nicht mehr um ein Gleichgewicht oder Gegenseitigkeit geht.
Da sind zum einen die unermüdlichen Geber. Sie investieren sehr viel und erwarten im Gegenzug nichts zurück- Es bringt ihnen sogar Freude und Zufriedenheit, anderen etwas zu geben. Geber sind erst dann glücklich, wenn sie andere glücklich machen können – was zum großen Nachteil werden kann, wenn das Wohl anderer über das eigene gestellt wird.
Eine besondere Form ist die Doromanie, eine Zwangsstörung, die sich darin äußert, dass anderen Personen sehr viele oder zum Teil auch sehr teure Geschenke gemacht werden.
Neben den Gebern gibt es aber auch klassische Nehmer. Ihm ist das Gegenseitigkeitsprinzip reichlich egal, er ist nur daran interessiert, möglichst viel von anderen zu bekommen. Selbst etwas tun, einen Gefallen erwidern oder anderen uneigennützig helfen? Das ist dem Nehmer gänzlich fremd. Er nutzt andere schamlos aus – und bezahlt dafür mit fehlenden sozialen Beziehungen, weil er keine langfristigen Bindungen aufrecht erhalten kann.
Manipulation mit dem Gegenseitigkeitsprinzip
Das Gegenseitigkeitsprinzip ist jedoch mehr als nur theoretisches Wissen. Es ist ein häufiges Mittel der Manipulation. Und bevor Sie nun schockiert sind und darüber nachdenken, wer Sie wohl alles schon einmal durch Gefälligkeiten und Schuldgefühle erpresst oder beeinflusst hat, sollten Sie sich zunächst einmal an die eigene Nase fassen.
Vermutlich haben Sie schon selbst einmal einen Gefallen getan und dabei den Hintergedanken gehabt, dass es ganz nützlich sein könnte, wenn der Gegenüber Ihnen noch etwas schuldet. Vielleicht haben Sie die Schicht mit einem Kollegen getauscht, weil Sie schon wussten, dass Sie bald ebenfalls ein zeitliches Problem bekommen und tauschen müssen. Das ist nicht unbedingt böswillige Absicht, aber doch zumindest berechnend und ist durchaus eine Manipulation.
Andere nutzen den Effekt des Gegenseitigkeitprinzips fast schon professionell aus. Bei der Verhandlungsführung ist es beispielsweise eine oft genutzte Strategie, dem Gegenüber kleinere Zugeständnisse zu machen, ihm entgegenzugehen und somit ein Schuldgefühl zu erzeugen. Kommt es dann zu den wirklich wichtigen Aspekten, soll der andere den Gefallen erwidern und seinerseits Kompromisse eingehen – die im besten Fall deutlich größer ausfallen und dazu führen, dass die eigenen Ziele erreicht werden.
Auch Verkäufer nutzen das Gegenseitigkeitsprinzip, wenn sie beispielsweise kleinere Kostproben umsonst verteilen oder einen Preisnachlass gewähren. Der Kunde hat ein schlechtes Gewissen und kauft, um das Gefühl der Schuld zu überwinden.
Treibt man das ganze auf die Spitze, lässt sich schnell ein wichtiger Kritikpunkt am Gegenseitigkeitsprinzip finden: Es gibt kein selbstloses oder uneigennütziges Handeln, weil jede eigene Aktion eine mindestens genauso starke Reaktion von der anderen Seite hervorruft – ob dies nun gewollt ist oder nicht, sei einmal dahin gestellt. So könnte selbst ein unschuldiges Hilfsangebot als Manipulation ausgelegt werden, da der Freund oder Kollege anschließend in Ihrer Schuld steht und den Drang verspürt, diese zu begleichen.
So können Sie dem Gegenseitigkeitsprinzip entgehen
Es gibt viele Möglichkeiten, wie Sie das Gegenseitigkeitsprinzip zum eigenen Vorteil nutzen und einsetzen können. Sobald Sie wissen und verstehen, wie jemand handelt und reagieret, können Sie diesen Vorsprung gezielt einsetzen, um ihn zu beeinflussen. Haben Sie etwa einen Freund, der jede Schuld immer sofort begleicht, ist es eine Leichtigkeit, immer dann ein Schuldgefühl zu erzeugen, wenn Sie gerade einen größeren Gefallen benötigen.
Deutlich schwieriger ist jedoch das Gegenteil: Wie können Sie dem Gegenseitigkeitsprinzip entgehen und verhindern, dass andere Sie manipulieren und wie eine Figur über das Schachbrett schieben? Eine Warnung vorneweg: Leicht wird es in keinem Fall, da viele Menschen sehr geübt darin sind, anderen Schuldgefühle zu machen und es einige Überwindung kostet, aus dem Kreislauf der Reziprozität auszubrechen.
Möglich ist es aber durchaus. Diese Tipps können helfen.
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Bedenken Sie die Auswirkungen
Der erste wichtige Schritt ist es, das Gegenseitigkeitsprinzip nicht zu vergessen, sondern dessen Auswirkungen immer im Hinterkopf zu haben. Das wird nicht verhindern, dass Sie eine Schuld begleichen wollen, doch werden Sie sich Ihrer Entscheidungen bewusster sein. Gerade in Verhandlungen können Sie so der Manipulation entgehen, indem Sie den Trick frühzeitig erkennen und entgegenwirken, um nicht selbst in die Schuldfalle zu geraten.
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Sagen Sie Nein und lehnen Sie ab
Ein effektiver aber schwer umzusetzender Weg gegen das Gegenseitigkeitsprinzip: Sagen Sie öfter Nein. Dies gilt vor allem in Verhandlungen aber auch bei einem Gefallen. Je häufiger Sie sich auf sich selbst verlassen und die Dinge alleine lösen, desto seltener stehen Sie in der Schuld eines anderen.
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Lassen Sie Ihre Schuldgefühle nicht entscheiden
Sie müssen lernen, dem inneren Drang zu widerstehen und nicht einzig und allein aufgrund Ihrer Schuldgefühle zu handeln oder zu entscheiden. Ansonsten machen Sie sich durch das Gegenseitigkeitsprinzip angreifbar. Wenn Ihnen jemand einen Gefallen tut, sollten Sie sich bedanken und selbstverständlich nicht komplett egoistisch sein – Sie müssen aber nicht gegen Ihren eigenen Willen handeln, nur weil Sie Schuldgefühle haben.
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Gehen Sie mit gutem Beispiel voran
Warten Sie nicht darauf, dass jemand anders den Kreislauf durchbricht und das Gegenseitigkeitsprinzip beendet. Tun Sie es selbst und gehen Sie so mit gutem Beispiel voran. Betonen Sie beispielsweise, dass Sie für Ihre Hilfe keine Gegenleistung erwarten oder lehnen Sie diese sogar freundlich ab, wenn Ihr Gegenüber seine gefühlte Schuld wieder gut machen möchte.
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