Straight-Line-Instinct Definition: Was bedeutet es?
Der Begriff Straight-Line-Instinct geht auf den schwedischen Arzt und Statistiker Hans Rosling zurück. Er beschrieb damit die Annahme vieler Menschen, dass derzeitig beobachtbare Entwicklungen und Phänomene sich linear weiter entwickeln werden.
Eins der bekanntesten Beispiele dafür ist die Grundannahme des amerikanischen Biologen Paul R. Ehrlich in seinem 1968 erschienenen Buch The Population Bomb (deutsche Fassung: Die Bevölkerungsbombe). Er sagte mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung für die Zeit zwischen 1970 und 1980 das Sterben von Hunderten von Millionen Menschen aufgrund von Hungersnöten und Krankheiten voraus.
Ende der siebziger Jahre zeichnete sich ab, dass diese Vorhersage nicht zutraf. Ehrlich war dem Straight-Line-Instinct auf den Leim gegangen. Er hatte mögliche Hungersnöte überschätzt, ebenso die Sterblichkeitsrate, die tatsächlich jedoch im Laufe der Jahre zurückging.
Denn entgegen der Annahme des Straight-Line-Instincts verhalten sich die Dinge, die menschlichem Handeln unterworfen sind, anders. Sie entwickeln sich längst nicht linear, sondern in Kurven.
Ignorieren von Fakten aufgrund kognitiver Verzerrungen
Wenngleich die Weltbevölkerung tatsächlich wächst, ist fraglich, ob die oft beschworenen Schreckensszenarien tatsächlich realistisch sind. Denn bei genauerer Betrachtung relativieren sich einige Dinge. Beispielsweise wird China gerne als ein überbevölkertes Land bezeichnet.
Verglichen mit Deutschland lässt sich diese Aussage nicht aufrecht erhalten, da hierzulande eine höhere Bevölkerungsdichte zu verzeichnen ist. Rosling geht in seinem Buch Factfulness einigen solchen Irrtümern nach, die durch kognitive Verzerrung entstehen.
Gemeint sind damit unbewusste Fehler in der Wahrnehmung, Erinnerung, beim Denken und Urteilen. Der Straight-Line-Instinct ist hierbei einer von mehreren:
- Gap Instinct: Menschen neigen dazu, jeweils zwei gegensätzliche Pole zu erkennen und blenden dabei leicht die Mitte aus. Die Realität findet aber nicht nur an diesen Polen statt.
- Negativity Instinct: In der Psychologie ist bekannt, dass Menschen sich schlechte Informationen deutlich besser einprägen als positive. Das gilt auch dann noch, wenn sich Dinge zum Besseren ändern – positive Nachrichten werden eher ausgeblendet. Das führt zu unnötigem Stress und Pessimismus.
- Straight Line Instinct: Siehe oben.
- Fear Instinct: Ähnlich wie der Negativity Instinct geht es darum, dass wir Dingen, die uns Angst einjagen deutlich stärkere Aufmerksamkeit schenken. Dabei wird vergessen, die Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen.
- Size Instinct: Dinge werden häufig medial aufgebauscht und auch wir selbst lassen uns leicht täuschen, wenn wir nur den Einzelfall sehen. Dabei müssten Ereignisse mit relevanten Zahlen verglichen oder in Relation gesetzt werden.
- Generalization Instinct: Generalisierungen vereinfachen den Alltag. Wir kategorisieren und packen Menschen und ihre Eigenschaften in Schubladen. Unglücklicherweise auch dann, wenn die Dinge komplexer sind und genauerer Betrachtung bedürfen.
- Destiny Instinct: Dieser Instinkt blendet Veränderungen aus, wenn sie langsam vonstatten gehen.
- Single Perspective Instinct: Menschen neigen dazu, Dinge nur aus einer einzelnen (ihrer eigenen) Perspektive zu betrachten. Um jedoch einen umfassenden Blick auf eine Herausforderung zu bekommen und zur Problemlösung beitragen zu können, sind mehrere Perspektiven notwendig.
- Blame Instinct: Hinter dieser Neigung versteckt sich die unangenehme, wenngleich menschliche Art, jegliche Schuld von sich zu weisen und stattdessen nach einem Sündenbock zu suchen.
- Urgency Instinct: Häufig wird geglaubt, dass auf Veränderungen schnell reagiert werden müsste – dabei ist das in den wenigsten Fällen erforderlich. Die unnötige Hektik führt nur zum Tunnelblick und verhindert analytisches Denken und Vorgehen.
Gefahr des Straight-Line-Instincts
Kognitive Verzerrungen wie der Straight-Line-Instinct und andere erschweren oftmals das Leben. Dinge werden viel dramatischer eingeschätzt und führen zu einer negativen Sicht auf die Dinge.
Speziell beim Straight-Line-Instinct ist es – im Positiven wie im Negativen – so, dass jeder denkt, er könne die Entwicklung absehen. Medien tragen ihr Übriges dazu bei, aus einer Ausnahme eine Regel zu machen.
Das Problem dabei: Auf der Grundlage dieser falschen Annahmen werden Entscheidungen getroffen. Es ist naheliegend, dass die Ergebnisse dieser Entscheidungen nicht genauso wertvoll sind wie wenn die Vorhersagen und Datenerhebungen korrekter gewesen wären.
Und so kommt es, dass seit Jahren angenommen wird, dass die Weltbevölkerung explodieren werde. Auf dieser Basis wurden Entscheidungen wie die Ein-Kind-Politik getroffen. Der Straight-Line-Instinct lässt sich ebenso gut auf das Berufsleben und den Arbeitsmarkt übertragen.
Ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen, der Fachkräftemangel, eine hohe Anzahl an offenen Stellen und hohe Gehälter in einer Branche lassen für viele nur einen Rückschluss zu: Demnach ist auch zukünftig mit einem Eldorado für Arbeitnehmer zu rechnen.
Mehr Realitätssinn: So geht’s
Der Straight-Line-Instinct birgt in obigen Fall die Gefahr, dass völlig blauäugig bestimmte Entwicklungen nicht gesehen werden. Das kann dazu führen, dass beispielsweise bezogen auf die Berufswahl eine Ausbildung gewählt wird, die nicht zielführend ist.
Denn unter Umständen gelangt ein Arbeitnehmer so mitten in den Schweinezyklus. Waren kurz vor und während seines Studiums die Jobaussichten noch rosig, wurde der Bedarf während seiner Ausbildung durch viele andere Jobsuchende gedeckt – Jahre des Studiums umsonst, da der Arbeitsmarkt einen tiefgreifenden Wandel vollzogen hat.
Mit Blick auf die Liste der obigen kognitiven Verzerrungen lassen sich einige Handlungsmaxime ableiten, die das Risiko eines Straight-Line-Instincts bei Ihnen reduzieren:
- Vermeiden Sie das Denken in Extremen. Differenzieren Sie stattdessen, so fallen Sie nicht auf vermeintlich einfache Lösungen herein.
- Denken Sie positiv. Spätestens mit dem Wissen um das katastrophische Gehirn sollten Menschen sich selbst einen Gefallen tun und einen realistischen Optimismus an den Tag legen.
- Hinterfragen Sie die Dinge. Wann immer das nächste Katastrophenszenario beschworen wird, sollten Sie sich davon nicht ins Bockshorn jagen lassen. Behalten Sie im Hinterkopf, dass eine journalistische Regel „Good news are no news“ heißt. Das bedeutet, vieles wird größer gemacht als es ist. Erst mit relevantem Zahlenmaterial lässt sich einschätzen, wie groß der Einfluss tatsächlich ist.
- Überprüfen Sie Ihre Wahrnehmung. Stereotype erleichtern die Kategorisierung und die Beurteilung von Informationen. Gleichzeitig bilden sie auch die Basis für Vorurteile. In dem Moment, wo Sie pauschale Begriffe wie nie und immer verwenden, sollten Sie zumindest aufhorchen.
- Überstürzen Sie nichts. Nichts wird so heiß gegessen wie gekocht. Unter Zeitdruck Entscheidungen zu fällen, ohne genaue Sachkenntnis zu haben, rächt sich in den meisten Fällen. Bestes Beispiel dafür sind Lockangebote, die sich im Nachhinein als teuer erweisen.
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