Was ist Harmoniesucht eigentlich?
Fast alle Menschen sind harmoniebedürftig. Wir sind soziale Wesen, umgeben uns gerne mit anderen Menschen, wollen einer Gruppe angehören, unsere Ansichten und Meinungen mit anderen teilen, verstanden werden und uns insgesamt wohl in unserer sozialen Umgebung fühlen. Harmoniesucht ist hingegen eine Extremform und geht noch einen ganzen Schritt weiter. Wer unter Harmoniesucht leidet, verspürt einen regelrechten inneren Drang nach Freundlichkeit, Eintracht, Konfliktfreiheit und Einigkeit in seinem Umfeld.
Klassischerweise zeigt sich Harmoniesucht beispielsweise darin, bei einem Streit instinktiv die Flucht zu ergreifen. Unabhängig davon, ob man selbst überhaupt in den Streit involviert ist oder sich zwei andere Parteien in die Haare bekommen. Schon der Gedanke an Auseinandersetzungen, schlechte Laune, vielleicht sogar Geschrei, Frust und Wut auf den anderen lassen Harmoniesüchtige das Weite suchen.
Damit hört es aber noch lange nicht auf. Harmoniesucht bedeutet auch, Streitigkeiten bei möglichst jeder Gelegenheit zu vermeiden. Ganz rigoros und präventiv. Motto: Mir ist alles recht, Hauptsache wir sind uns einig und alles bleibt harmonisch.
Ob Sie, ein Kollege, ein Freund oder jemand in Ihrer Familie harmoniesüchtig ist, lässt sich nicht immer ganz eindeutig sagen. Die Grenzen zwischen einer verstärkten Harmoniebedürftigkeit und wirklicher Harmoniesucht sind nur schwer zu ziehen. Es gibt allerdings einige Symptome, auf die Sie achten können – gerade dann, wenn diese sich häufen.
- Bei Auseinandersetzungen fühlen Sie sich unwohl – egal, wer streitet.
- Sie haben ein gutes Gespür für eine drohende Auseinandersetzung.
- Sie befürchten, dass jeder Streit eine Gruppe auseinander reißen könnte.
- Wenn es Streit gibt, ziehen Sie sich zurück und verlassen die Situation.
- Sie äußern nie Kritik an anderen.
- Sie wollen von anderen nie kritisiert werden.
- Sie gestehen Fehler ein, auch wenn Sie diese nicht begangen haben.
- Sie sind bereit, anderen zuzustimmen, nur um Konflikte zu vermeiden.
Einzelne Punkte dieser Liste treffen vermutlich auf die meisten Menschen zu, aufmerksam werden sollte Sie deshalb erst, wenn diese in Summe auftreten oder das Verhalten deutlich durch die Harmoniesucht bestimmt und auch beeinträchtigt wird.
Woher kommt die Harmoniesucht?
Diskussionen und auch Streit gehören zum Zusammenleben dazu. Es ist nur natürlich, dass nicht alle immer einer Meinung sein können. Gerade im Berufsleben zeigt sich das immer wieder. Viele verschiedene Persönlichkeiten und auch Ansichten mischen sich in einem Team zusammen, der eine versucht, seinen Willen durchzusetzen und schon droht ein Konflikt. Meinungen und Argumente werden, ausgetauscht, manchmal kann dabei auch gestritten werden, doch am Ende wird sich geeignet – oder alle Beteiligten sind sich einig, dass keine Einigung erzielt wird.
Alles in der Regel halb so wild. Aber was sind dann die Ursachen der Harmoniesucht? In einigen besonderen Fällen ist es vielleicht ein heftiger Streit mit großen Emotionen, der die eigene Einstellung verändert hat. Oft liegen die Gründe allerdings tiefer.
Hinter Harmoniesucht steht die Angst vor Ablehnung und auch tiefgreifende Verlustängste. Wer harmoniesüchtig ist, fürchtet durch die Auseinandersetzungen aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden. Also wird versucht, es immer allen anderen recht zu machen, um bloß nirgendwo anzuecken oder negativ aufzufallen. Harmoniesüchtige Menschen wollen nicht zurückgewiesen werden und können deshalb mit der Situation nicht umgehen.
Diese Angst wird dann auch auf die Konflikte zwischen anderen übertragen. Dahinter kann beispielsweise auch ein Erlebnis in der Kindheit stecken, wo miterlebt wurde, wie die Eltern sich nach einem Streit getrennt haben. Um das traumatische Erlebnis nicht noch einmal erleben zu müssen, wird jegliche Auseinandersetzung deshalb im Keim erstickt. Der Gedanke dahinter ist eigentlich recht simpel: Solange sich niemand streitet, sind alle glücklich und es ändert sich auch nichts an der positiven Atmosphäre.
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Die Gefahren der Harmoniesucht
Auf den ersten Blick scheint Harmoniesucht gar nicht so schlecht zu sein. Wer will schon ständig streiten und sich mit anderen herumärgern müssen? Da kommt ein wenig Harmoniesucht doch ganz gelegen, um es erst gar nicht soweit kommen zu lassen und stattdessen das harmonische Miteinander zu bewahren. Grundsätzlich mag das stimmen, der entscheidende Faktor hierbei lautet ein wenig Harmoniesucht…
Die Dosis macht bekanntlich das Gift und so ist es auch in diesem Fall. Natürlich ist es gut, nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Streit vom Zaun zu brechen, auch mal nachsichtig zu sein, Kompromisse einzugehen und Auseinandersetzungen verhindern zu können. Allerdings führt gesteigerte Harmoniesucht oft eher noch zu mehr Problemen und ist gerade auf lange Sicht wenig hilfreich.
Harmoniesüchtige sind bereit, die Harmonie in ihrem Umfeld über alles andere zu stellen. Dadurch werden Sie zu Ja-Sagern, die nur noch versuchen, es allen anderen recht zu machen. Eine eigene Meinung gibt es nicht mehr, da andere widersprechen könnten, Kritik wird gänzlich verbannt, eigene Bedürfnisse ausgeblendet und Überzeugungen werden verraten, nur um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Harmoniesucht führt dazu, dass das eigene Selbstbewusstsein immer weiter schwindet, die Entscheidungen werden nur noch danach getroffen, was andere denken könnten.
Am Ende verleugnen Harmoniesüchtige sich selbst.
Hinzu kommt, dass Meinungsverschiedenheiten manchmal einfach notwendig sind, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen oder grundlegende Aspekte zu klären. Wer nicht diskutiert, kann nie verstehen, was der andere denkt oder was hinter seinen Meinungen steckt. Der Austausch – nicht immer nur bei gleichen Ansichten, sondern gerade auch kritisch – kann ein viel engeres Band zwischen Menschen schnüren.
Und nicht zuletzt wird Harmoniesucht früher oder später immer enttäuscht. Es lässt sich schlichtweg nicht jede einzelne Auseinandersetzung vermeiden, egal wie sehr es versucht wird.
Harmoniesucht in Führungspositionen
Chefs bilden in Sachen Harmoniesucht übrigens keine Ausnahme. Vielleicht sogar eher das Gegenteil, da Vorgesetzte häufiger in eine Situation kommen, in der sie vermitteln müssen. Den meisten Führungskräften macht es schlichtweg keinen Spaß, einen Mitarbeiter zu kritisieren oder Entscheidungen zu treffen, die für ihn unangenehme Konsequenzen haben. Loben ist viel leichter: Danach sind beide glücklich. Dahinter steckt jedoch ein gefährliches Entscheidungsmuster.
Gerade in Positionen mit Führungsverantwortung kann Harmoniesucht deshalb besonders schwierig sein.
Harmoniesüchtige Manager wissen zwar, dass sie ihre Mitarbeiter fordern und fördern sollen, weil sie diese Formel schon hundertfach gehört haben. Sie wissen, dass Qualität von quälen kommt und gelegentliche Ermahnungen so unvermeidlich sind wie Erbauungen nötig.
Trotzdem meiden sie unangenehme Gespräche wo sie nur können: Sie beschönigen, generalisieren, werden vage und verstecken sich hinter dem unbestimmten „man sollte vielleicht…“ statt im Klartext zu sagen „Ich möchte, dass…“ (Oder noch bestimmter: „Ich erwarte von Ihnen, dass…“).
Solche Führungskräfte führen aber nicht, sie verwalten allenfalls. Und kaum etwas diskreditiert sie im Ansehen ihrer Mitarbeiter und Kollegen schneller und mehr.
Natürlich gibt es auch die andere Sorte Chef: kontrollwütige, cholerische Sonnengötter, die alles besser können, deshalb nie zufrieden sind und an allem etwas auszusetzen haben. Aber die sind seltener.
Wesentlich verbreiteter sind jene Bosse, die kritische Worte stets dort vermeiden, wo sie ihre Leute am dringendsten hören sollten. Diese netten Chefs sind die schlimmsten!
- Sie dividieren Freundlichkeit von Verantwortung und Fairness von Aufrichtigkeit.
- Sie suchen zuerst ihren Vorteil, statt den des Unternehmens und streben in erster Linie nach Anerkennung und Sympathie, statt nach bester Leistung.
Das ist eine gefährliche Schwäche, und sie macht sie enorm erpressbar.
In einer Arbeitswelt, die immer stärker auf Teamplay, Kommunikation und Kreativität basiert, ist ehrliches Feedback unverzichtbar. Wie sollen sich die Leute sonst entwickeln können? Und sei es nur, dass sie lernen, mit Kritik besser umzugehen.
Stellen Sie sich eine Gruppe vor, in dem ein Mitarbeiter ständig große Reden schwingt, aber kaum etwas von seinen kühnen Visionen umsetzt, während alle anderen für ihn mitschuften. Die Kollegen sehen das, der Boss sieht das – und alle erwarten von ihm, das er etwas dagegen unternimmt, Tacheles redet, den Minderleister zur Rede stellt und die Arbeit fair verteilt. Doch er schweigt – aus Angst vor dem Konflikt, vor der dicken Luft hinterher und dem vorwurfsvollen Blick des verkannten Visionärs.
Wie lange glauben Sie, geht das so gut?
Über kurz oder lang wird die Luft trotzdem zum Schneiden sein, die wahren Leistungsträger werden sich kurz nach der Produktivität verabschieden. Und die Chefchefs werden sich sicher auch ihren Teil dazu denken: Test nicht bestanden…
Jede Führungskraft sollte sich klarmachen, dass sie nicht dafür bezahlt wird, einen Sympathiewettbewerb zu gewinnen. Natürlich sollten die Kollegen ihren Chef respektieren und schätzen, aber das tun sie eben in der Regel an jenen Tagen, an denen er ehrlich Ihre Leistung bewertet nicht zwangsläufig. Na und?!
Wenn die Kollegen grundsätzlich spüren, dass ihr Chef das aus Verantwortungsgefühl heraus und mit dem aufrichtigen Wunsch, sie zu fördern, tut, dann wird der Ärger schon in den nächsten Tagen verraucht sein. Die Leistungen werden sich nachhaltig verbessern – und nicht zuletzt wird auch der Chef an dieser Minikrise gewachsen sein.
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