Psychologie: Was ist Harmoniesucht?
Nahezu alle Menschen sind harmoniebedürftig. Wir sind soziale Wesen und leben gerne in Frieden und harmonischer Eintracht, wollen uns verstanden, angenommen und geborgen fühlen. Harmoniesucht (auch: toxische Positivität) ist jedoch eine ungesunde und schädliche Extremform des natürlichen Harmoniebedürfnisses.
Harmoniesucht beschreibt in der Psychologie ein übersteigertes Verlangen nach einem friedlichen Miteinander, das jegliche Konflikte vermeidet und Auseinandersetzungen nur schwer ertragen kann. Harmoniesüchtige Menschen gehen Streit aus dem Weg, passen sich permanent an und ignorieren dabei eigene Gefühle, Meinungen und Bedürfnisse.
Symptome: Woran kann ich Harmoniesucht erkennen?
Ob in der Beziehung, in einer Freundschaft oder im Job: Wir alle streben nach einem freundlichen, harmonischen Miteinander. Das Harmoniestreben ist uns in die Wiege gelegt. Gleichzeitig gehören Meinungsverschiedenheiten, Diskussionen und Konflikte zum Leben dazu. Das auszuhalten, muss jeder Mensch lernen.
Menschen mit übersteigertem Harmoniebedürfnis können dies (noch) nicht oder nur schwer ertragen. Zu erkennen ist starke Harmoniesucht an typischen Verhaltensmustern:
Harmoniesucht Symptome und Verhaltensweisen:
Harmoniesüchtige Menschen…
- wollen immer freundlich und nett sein.
- bemühen sich um Eintracht und Ausgleich.
- möchten alle Erwartungen erfüllen.
- gehen Konflikten aus dem Weg.
- versuchen Streit sofort zu deeskalieren.
- verteidigen ihren Standpunkt nicht.
- gehen auf alle Kompromisse ein.
- stimmen zu, obwohl sie anderer Meinung sind.
- möchten andere Menschen nicht kritisieren.
- möchten selbst nicht kritisiert werden.
- entschuldigen sich häufig – auch für fremde Fehler.
- bleiben in ihrer Komfortzone.
- versuchen, es allen recht zu machen.
- ignorieren eigene Bedürfnisse.
Ein weiteres Indiz für Harmoniesucht ist ein Kommunikationsstil im Konjunktiv. Typische Sätze sind: „Vielleicht wäre es ganz schön, wenn…“ Oder: Ich würde gerne vorschlagen, dass…“ Betroffene neigen dazu, eher indirekt zu formulieren, um weniger fordernd zu klingen. Die Harmonieorientierung geschieht jedoch meist in bester Absicht.
Ursachen: Woher kommt die Harmoniesucht?
Die Sehnsucht nach einem konfliktfreien Leben im Einklang mit anderen ist generell nichts Schlechtes. Wir alle wollen dazugehören und uns in unserem sozialen Umfeld wohlfühlen. Bei Harmoniesucht aber entwickelt sich daraus ein innerer Zwang, permanent Streit „um des lieben Friedens willen“ zu vermeiden und in der eigenen Umgebung Harmonie herzustellen – zur Not auf eigene Kosten.
Die Ursachen für diese Harmoniesucht liegen meist in der Kindheit. Betroffene haben häufig die Erfahrung gemacht, wenn sie die Erwartungen von Eltern oder nahen Bezugspersonen nicht erfüllen, werden sie nicht mehr geliebt, ablehnt oder ausgegrenzt. Daraus entwickeln sich schließlich ein Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und Anerkennung.
Weitere Ursachen sind typische, negative Glaubenssätze, die ebenfalls unser Denken und Verhalten prägen. Dazu gehören zum Beispiel, dass man immer hilfsbereit sein muss und Gefallen nicht ablehnen darf. Oder die Erfahrung, dass ein Streit regelmäßig zu Liebesentzug oder einer Trennung (der Eltern) führt. Also wird versucht, es allen recht zu machen, um bloß nicht anzuecken oder negativ aufzufallen.
Was sind die Gefahren der Harmoniesucht?
Harmoniesucht basiert maßgeblich auf der Angst vor Ablehnung. Es ist eine Art Überlebensinstinkt, um nicht aus der Gruppe ausgegrenzt zu werden. Die große Gefahr: Weil Harmoniesüchtige alles tun, um Konflikte zu vermeiden, ziehen Sie egoistische Menschen und Narzissten geradezu magisch an.
Die Sucht nach Harmonie ist genau das, was Betroffene anfällig macht für Manipulation und Ausbeutung. Sie sind die perfekten Ja-Sager, übernehmen die Verantwortung für die Fehler anderer und stimmen auch dem faulsten Kompromiss zu. Hauptsache, alle sind glücklich und es gibt keinen Streit.
In der Folge führt Harmoniesucht in eine Abwärtsspirale aus Selbstausbeutung, Selbstverleugnung und sinkender Selbstachtung. Betroffene „leiden“ buchstäblich unter ihrer Harmoniesucht. Damit ist es jedoch wie mit einem Topf mit kochendem Wasser: Je mehr man über alles den Deckel presst, desto größer die Gefahr, dass der Topf irgendwann im- oder explodiert.
Harmoniesucht im Job
Gerade im Job ist Harmoniesucht ein regelrechter Karrierekiller. Wer nie lernt, seine Ideen oder Meinungen zu vertreten oder durchzusetzen, wird nicht nur zum Mitläufer und verliert an Respekt und Selbstachtung. Dem Unternehmen gehen so auch viel Know-how und Kreativpotenzial verloren.
Besonders dramatisch ist Harmoniesucht bei Führungskräften. Statt selbst zu führen und Vorbild zu sein, übernehmen Streitsüchtige und Egomanen das Ruder. Probleme werden beschönigt, Kritik und Entwicklung finden nicht statt, Leistung wird nach Sympathie bewertet, sogar die Aufrichtigkeit leidet darunter. Harmoniesucht bei Managern ist eine gefährliche Schwäche und macht sie enorm erpressbar.
Wie kann ich Harmoniesucht überwinden?
Das Bedürfnis nach Harmonie und Einklang ist menschlich und zieht sich durch alle Lebensbereiche: Beziehung, Freunde, Kollegen, Vorgesetzte, Kunden. Paracelsus würde sagen: „Die Dosis macht das Gift.“ Falls Sie das Gefühl haben, Sie tendieren zu übertriebener Harmoniesucht, dann können Sie etwas dagegen tun.
Mit den folgenden, bewährten Empfehlungen lässt sich eine krankhafte Harmoniesucht überwinden:
1. Selbstvertrauen stärken
Hinterfragen Sie Ihre Glaubenssätze und Denkmuster: Warum gehen Sie Konflikten aus dem Weg? Warum glauben Sie, dass Sie für Ihre Meinung abgelehnt werden und sich durchzusetzen schlecht ist? Stärken Sie Ihr Selbstvertrauen, indem Sie sich und Ihre Ideen oder Bedürfnisse mehr wertschätzen und Menschen loslassen, die Sie tatsächlich nur mögen, solange Sie „funktionieren“.
2. Nein sagen lernen
Hilfsbereite Menschen, die niemals Nein sagen, mag jeder. Sie machen das Leben leichter – das eigene. Doch wer nicht Nein sagen lernt, wird öfter ausgenutzt, macht sich abhängig von der Liebe anderer und überlastet sich systematisch. Gewöhnen Sie an, Bitten kritisch zu hinterfragen, die Konsequenzen eines „Ja“ zu bedenken und bewusst Grenzen zu setzen (siehe: INGA-Prinzip) – ohne Schuldgefühle (PDF)!
3. Sich treu bleiben
Übermäßige Konfliktvermeidung wirkt destruktiv. Die Folge: Man wird von anderen weniger ernst genommen und Harmoniesucht ist für Beziehungen oder die Zusammenarbeit ungesund. Betroffene leiden im Stillen und werden auf Dauer unglücklich. „Gewitter reinigen die Luft“, sagt eine Redewendung. Statt alles unter den Teppich zu kehren, bleiben Sie sich und ihrer Meinung treu. Das führt Sie zwar aus der Komfortzone, macht Sie aber umso authentischer.
4. Sich treu bleiben
Erlauben Sie sich, auch mal unverträglich zu sein und Kritik zu üben. Ohne Feedback können wir uns selbst und auch andere sich nicht weiterentwickeln. Und wenn etwas nicht gut ist, darf man das kritisieren – sachlich und konstruktiv. Indem Sie Ihre Konfliktfähigkeit und Durchsetzungskraft trainieren (und sich weniger anpassen und schweigen), werden Sie insgesamt zu besseren Ergebnissen finden und die Beziehungen wirklich harmonisieren.
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