Spiegelneuronen Definition: Nervenzellen der einfühlsamen Art
Anfang der Neunzigerjahre unternahm eine Gruppe italienischer Forscher um Giacomo Rizzolatti eine Reihe von Versuchen mit Makaken, einer Affenart unter den Primaten. In den Versuchen der Universität Parma sollte ursprünglich herausgefunden werden, wie Handlungen im Gehirn geplant und umgesetzt werden. Und welche Nervenzellen bei diesem Vorgang aktiv sind.
Dann aber kam es zu einer sensationellen Entdeckung: Die Neuronen des Hirnareals F5c reagierten nicht nur, wenn der Affe nach einer Nuss griff. Das Messgerät schlug ebenfalls aus, wenn der Affe nur beobachtete, wie ein Forscher nach der Nuss griff.
Diese Reaktion der Nervenzellen auf das Verhalten eines anderen wurde als „spiegeln“ interpretiert, weshalb die Nerven fortan als Spiegelneuronen (englisch: mirror neurons) bezeichnet wurden. Beim Menschen sitzen sie im Bereich des präfrontalen Cortex (Stirnlappen). Genauer: im Broca-Areal, das unter anderem mit mit Sprachfunktionen in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2010 gelang es den Wissenschaftlern Roy Mukamel und Itzhak Fried sogar, die Aktivität von Spiegelneuronen direkt im menschlichen Gehirn zu messen.
Obwohl sich die Entdeckung der Spiegelneuronen zunächst auf Handlungen bezog, fand die Neurowissenschaftlerin Sophie Scott vom University College London im Jahr 2006 auch einen Beleg für Gefühle: Sie spielte ihren Probanden Laute vor, die verschiedene Emotionen wie Ekel, Angst, Triumph oder Freude ausdrückten. Prompt wurden die Hirnareale auch in diesen Fällen aktiv.
Fest steht damit: Spiegelneuronen funktionieren unbewusst. Ihr ansteckender Effekt wirkt ohne nachzudenken. Damit bewirken Spiegelneuronen hauptsächlich, …
- dass wir beobachtete Gefühle nachempfinden können (siehe: Empathie).
- dass wir eine beobachtetes Verhalten intuitiv nachahmen.
- dass wir – bei Sympahtie – unsere Körpersprache unbewusst harmonisieren und nachahmen.
Entsprechend werden Spiegelneuronen heute auch als Simulations- oder Empathieneuronen bezeichnet. Sie bilden – möglicherweise sogar – das Fundament unseres Denkens, Mitgefühls und unserer Sprache. Allerdings reagieren diese nur, wenn das beobachtete Verhalten uns selbst bekannt ist oder zum eigenen Repertoire gehört. Wir müssen dazu, damit die emotionale Ansteckung gelingt, auf Vorerfahrungen zurückgreifen können.
Wie Spiegelneuronen wirken
Spiegelneuronen sind nicht nur relevant beim Einfühlungsvermögen. Auch in der Psychologie der Sympathie spielen sie mit. Die Forschung spricht hier vom sogenannten Resonanzphänomen: Wer uns imitiert, den mögen wir – und umgekehrt.
Je ähnlicher sich Menschen sind, je mehr Gemeinsamkeiten sie haben, desto eher stimmt die sprichwörtliche Chemie. Sie sind – wie man sagt – auf einer Wellenlänge. Das lässt sich aber eben auch manipulieren.
Es ist nicht nur so, dass Menschen, die sich mögen, ihre Körpersprache angleichen, dieselben Worte benutzen oder die Mimik ihres Gegenübers unbewusst imitieren (Fachjargon: Rapport). Ebenso können wir subtil Sympathien wecken, indem wir eben diese Körpersprache, Gestik, Mimik unseres Gegenübers dezent (!) nachahmen (siehe: Chamäleon-Effekt).
Lachen ist ansteckend, gute wie schlechte Laune auch. Doch inwiefern das immer so authentisch ist, lässt sich schwer beurteilen. Wenn beispielsweise über den Witz des Chefs (mit ihm mit-) lachen, dann kann das daran liegen, das der Scherz wirklich lustig war. Oder daran, dass sie seine Gunst behalten oder gewinnen wollen.
Kinder müssen Empathie erst erlernen
Letztlich hilft die Existenz von Spiegelneuronen einer alten Frage auf die Sprünge: Wie kommt es, dass sich manche Menschen so gut in andere einfühlen können? Kurze Antwort: Weil sie es gelernt haben – und zwar schon sehr früh. Als Kind.
Die Fähigkeit zum Mitgefühl gehört sozusagen zur Grundausstattung unseres Gehirns. Zumdindest ist sie dort angelegt. Spiegelneuronen sind mitunter schon bei Babys aktiv. Ab neun Monaten beginnen wir unsere Umwelt bewusst wahrzunehmen und mit ihr zu interagieren. So lächeln Babys zum Beispiel zurück, wenn sie angelächelt werden. Oder spüren auch, wenn Mama und Papa fröhlich, traurig oder wütend sind.
Allerdings ist es mit der bloßen Existenz dieser Spiegelneurone nicht getan: Die Fähigkeit, Gefühle nachzuempfinden, muss erlernt werden. Und dazu braucht es einen Partner.
Für gewöhnlich lernt das Baby von seiner Mutter (oder einer anderen Bezugsperson) Gefühle zu erforschen. Macht das Kind im Zuge dieses Lernprozesses schlechte Erfahrungen, hat das natürlich ebenfalls Auswirkungen auf die Spiegelneuronen.
Ein Kind, das beispielsweise erlebt, dass freundlich wirkende Menschen trotzdem bösartige Seiten haben, wird künftig auf freundliche Menschen misstrauischer reagieren als Kinder, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben.
Laut Hirnforschung kommt der Lebensphase zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr dabei nochmal eine prägende Bedeutung zu. In diesem Alter verbinden sich Empathie und Spiegelneuronen erneut miteinander.
Genau diese Prägungen und Erfahrungen können uns ein Leben lang begleiten, aber auch blockieren. Wer zum Beispiel in früher Jugend Vernachlässigung, Gewalt und emotionale Kälte erlebt hat, wird nur schwer echte Anteilnahme oder Vertrauen zu anderen Menschen entwickeln können.
In der Diskussion um Spiegelneuronen taucht daher ein bestimmter Persönlichkeitstypus immer wieder auf: der des Psychopathen.
Untersuchungen des deutsch-französischen Neurowissenschaftlers Christian Keysers (eBook) zeigten, dass solche Menschen beim Betrachten von schmerzhaften Verrenkungen keinerlei Mitgefühl zeigten. Das zuständige Hirnareal blieb bei ihnen völlig regungslos.
Zur großen Überraschung der Untersuchung gehörte aber auch, dass diese psychopathisch veranlagten Menschen in der Lage waren, ihre Emotionen an- und auszuschalten: Nach der ausdrücklichen Bitte um Mitgefühl waren sie durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Anders als beispielsweise bei Autisten. So legen jüngere Forschungen den Rückschluss nah, dass Spiegelneuronen bei Autismus nicht funktionieren.
Spieglein, Spieglein im Gehirn: Wir wollen gespiegelt werden
Der Einfluss von Spiegelneuronen geht Sozialpsychologen zufolge noch weiter: Danach hat der Mensch regelrecht den Wunsch, sein Verhalten und seine Gefühle gespiegelt zu bekommen. Das lässt sich hervorragend anhand von Großveranstaltungen, aber auch in der Art wie wir wohnen ablesen.
Anpassung und Angleichung drücken Verbundenheit aus. Wir wollen aber auch zu einer bestimmten Gruppe dazu gehören. Nicht selten aus einem (übersteigerten) Harmoniebedürfnis heraus. Das wiederum führt dazu, dass wir uns in vielen Bereichen anpassen, etwa…
- beim Filmgeschmack
- bei der Mode
- bei Büchern
- bei Musik
- bei Fußballverein
- und und und.
Ein Großteil des menschlichen Handelns orientiert sich dabei an drei Motiven:
- Sicherheit: Wir möchten ein sicheres Wissen haben über uns und die Umwelt.
- Kontrollbedürfnis: Wir möchten in verschiedenen Situationen angemessen reagieren können.
- Wohlbefinden: Wir möchten uns und in den Gruppen, denen wir angehören, gut fühlen.
Für gewöhnlich suchen wir uns dazu Gruppen mit ähnlichen Interessen und übernehmen unbewusst die Sichtweise der anderen. Das führt dazu, dass unsere Meinung von anderen beeinflusst wird.
Dass Gruppen Normen vorgeben, lässt sich nicht nur in Fußballstadien, sondern etwa auch in Reihenhaussiedlungen erkennen: Wer seinen Rasen wild wuchern lässt, während alle anderen das Grün sorgsam hegen und pflegen, wird schnell zum (negativen) Gespräch und schießt sich womöglich ins nachbarschaftliche Aus. Effekt: Gärten und Fassaden gleichen sich an.
Dieser Wunsch nach Anpassung und Zugehörigkeit begegnet uns ebenso auf der Arbeit. Etwa beim (inoffiziellen) Dresscode. Oder wenn wir von Kollegen erfahren, welche Serien wir unbedingt gucken müssen.
Spiegelneuronen: Kritik an der Vergleichbarkeit
Die Euphorie um die Empathie-Neuronen hat sich inzwischen etwas gelegt. Manchen Forschern gehen die Rückschlüsse aus den bisherigen Studien zu den Spiegelneuronen auch einfach zu weit. Das fängt mit der Übertragbarkeit der Ergebnisse an: Ob sich Affen wirklich so ohne Weiteres mit Menschen vergleichen lassen, wird immer wieder bezweifelt.
Ebenso das Ursache-Wirkungs-Prinzip – wie etwa von dem Hirnforscher Gregory Hickok. Seiner Meinung nach sind es nicht die Spiegelneuronen, die uns durch Imitation sozial machen, sondern andersherum: Weil wir sozial sind, imitieren wir Handlungsweisen anderer.
Immerhin: Zweifel an der Existenz der Spiegelneuronen hat die Fachwelt keine. Lediglich dass es sich hierbei um einzelne Zellen handelt, gilt heute als umstritten. Die Mehrheit der Wissenschaftler geht stattdessen von einem komplexen System im Gehirn aus, an dem mehrere Areale mit Spiegelfunktionen beteiligt sind.
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